In der Medizingeschichte finden sich nützliche Hinweise für den Umgang mit Covid-19 – welche das sind  darüber spricht der Medizinhistoriker Prof. Heiner Fangerau im Interview. Foto: ©iStock.com/Fokusiert
In der Medizingeschichte finden sich nützliche Hinweise für den Umgang mit Covid-19 – welche das sind darüber spricht der Medizinhistoriker Prof. Heiner Fangerau im Interview. Foto: ©iStock.com/Fokusiert

„Nach ihrem Abklingen war jede Pandemie schnell wieder vergessen“

Pandemien gab es zu allen Zeiten – und wir können daraus einiges für den Umgang mit Covid-19 lernen. Was genau, und in welchem Punkt der bayerische Ministerpräsident Markus Söder sich geirrt hat, darüber haben wir mit dem Arzt und Medizinhistoriker Prof. Dr. Heiner Fangerau gesprochen. Er ist Direktor des Institutes für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf – und Mitglied der Wissenschaftsakademie Leopoldina.
Medizinhistoriker Prof. Dr. Heiner Fangerau. Fotograf: Heiko Grandel
Medizinhistoriker Prof. Dr. Heiner Fangerau. Fotograf: Heiko Grandel

Was können wir aus früheren Seuchen und Pandemien über den Umgang mit Covid-19 lernen?

Prof. Dr. Heiner Fangerau: Man muss gut vorbereitet sein. Es gibt Möglichkeiten, sich auf eine Pandemie vorzubereiten und dagegen vorzugehen.

Welche sind das?

Fangerau: Zum Beispiel jene, die die WHO in ihren Pandemieplänen niedergelegt hat: frühzeitiges Erkennen von infizierten Personen, frühzeitige medizinische Versorgung dieser Personen und Maßnahmen, die eine Ausbreitung eindämmen. Wir wissen zum Beispiel aus der Geschichte der Epidemien, dass Hygienemaßnahmen sehr viel bewirken können. Nehmen wir die Cholera: Da hat man im 19. Jahrhundert sehr erfolgreich damit begonnen, die Städte zu sanieren und eine Kanalisation aufzubauen.

In Deutschland dürften neue Abwasserkanäle kaum gegen Covid-19 helfen, aber es gibt auch arme Regionen ohne ausreichende Trinkwasser-Versorgung.

Fangerau: Richtig, und dort ist die Gefahr einer unkontrollierten Ausbreitung besonders hoch. Wenn man sich die Erklärungstheorien zu aktuellen Viruserkrankungen ansieht, dann zeigt sich außerdem, dass sie vom Tier auf den Menschen übergesprungen sind oder durch Veränderungen der Umwelt begünstigt wurden – wir sollten also auch zum Beispiel Marktsituationen hygienisch gestalten und versuchen, Eingriffe in die Natur auf ein erträgliches Maß zu beschränken.

Pandemien brachten Therapien hervor, z.B. die Behandlung mit Antibiotika. ©iStock.com/microgen
Pandemien brachten Therapien hervor, z.B. die Behandlung mit Antibiotika. ©iStock.com/microgen

Gibt es Beispiele, die zeigen, dass eine Pandemie zum medizinischen Fortschritt beigetragen hat?

Fangerau: Wenn dazu auch Ordnen, Erklären und Handeln gehören, dann hat sich die Medizin seit der Antike bemüht, Erklärungsmodelle für das Entstehen und die Bekämpfung von Infektionskrankheiten zu entwickeln. Die Bakteriologie entstand Ende des 19. Jahrhunderts in der Folge von und als Antwort auf Pandemien und hat ein bis heute gültiges Erklärungssystem gefunden, das auch Therapien hervorgebracht hat – zum Beispiel die Behandlung mit Antibiotika. Auch die Entwicklung von Impfstoffen gegen Viren war eine Antwort auf die pandemische Ausbreitung solcher Viren.

Ein früher Kämpfer gegen Pandemien war der Seuchen- und Hygieneexperte Emil von Behring, der 1901 den ersten Nobelpreis für Medizin erhielt – zuvor hatte er Heilmittel gegen Diphtherie und Tetanus gefunden, die damals seuchenartig grassierten. Was war das Geheimnis seines Erfolges, aus dem heutige Mediziner lernen könnten?

Fangerau: Behring war ein Schüler von Robert Koch, der in Deutschland zu den ersten Vertretern der Bakteriologie gehörte – Koch hatte durch mikroskopische Untersuchungen herausgefunden, dass Bakterien Infektionskrankheiten erzeugen können, etwa Cholera. Das befeuerte eine ganze Forschungsrichtung, nämlich die Immunologie. Koch und seine Schüler, wie Behring oder Paul Ehrlich, wollten nicht nur erklären, wo eine Erkrankung herkommt, sondern sie dachten auch darüber nach, wie man sie behandeln kann. Koch war am Ende nicht amüsiert darüber, dass mit Behring einer seiner Schüler vor ihm den Nobelpreis bekommen hat. Das Geheimnis von Behrings Erfolg? Harte Arbeit. Permanente Versuchsreihen. Immer wieder neue Versuche – ein langer Atem ist sicher ein Teil des Erfolges.

Bei Covid-19 drängt aber die Zeit.

Fangerau: Ja, aber man hat andere Ressourcen. Während Behring anfangs mit einem aus heutiger Sicht kleinen Team gearbeitet hat, besteht heute die Möglichkeit, weltweit vernetzt mit großen Forscherteams zu arbeiten. Wissenschaftlicher Austausch erfolgte vor 100 Jahren über Papier und Zeitschriften. Das hat gedauert, bis so etwas gedruckt war. Bis man in Amerika eine deutsche Arbeit bekommen und gelesen hat, vergingen Tage oder Wochen. Da sind wir heute in einer ganz anderen Situation. Trotzdem bleibt es harte Arbeit. Es kann keiner versprechen, dass er morgen was gefunden hat.

Wie wichtig waren Impfstoffe bei der Bekämpfung früherer Pandemien?

Fangerau: Pocken wurden durch die Impfung komplett eliminiert, bei der Kinderlähmung ist man auf einem guten Weg, die Masern könnten durch konsequentes Impfen ebenfalls weiter zurückgehen. Impfstoffe sind ganz zentral im Kampf gegen Pandemien.

Foto: CC0 Stencil
Foto: CC0 Stencil

Gibt es in der Medizingeschichte Pandemien, die sich mit Covid-19 vergleichen lassen?

Fangerau: Ein Vergleich, der im Moment häufig gezogen wird, ist der mit der Spanischen Grippe von 1918/19. Auch damals wusste man nichts über die Erkrankung, die Geschwindigkeit der Ausbreitung war ebenfalls sehr hoch. Aber damals befand sich Europa im Kriegszustand, und schon hinkt der Vergleich. Am ehesten vergleichbar ist Covid-19 mit dem SARS-Ausbruch von 2009, weil es sich um ein ähnliches Virus handelt.

Welche Maßnahmen beim Umgang mit Covid-19 wären besonders sinnvoll, wenn man sie aus einem medizinhistorischen Blickwinkel betrachtet?

Fangerau: Wenn man nichts anderes hat, ist es auf jeden Fall sinnvoll, Kontakte einzuschränken – wobei Schutzrechte gegen individuelle Freiheitsrechte abzuwägen sind. Einen mustergültigen Weg gibt es da nicht. Denn egal, was man tut, es ist ein Handeln in Unsicherheit. Ärzte müssen in Unsicherheit handeln, Politiker ebenso. 

Kann eine Pandemie langfristig gesehen auch positive Folgen haben?

Fangerau: Wenn Menschen sterben, ist es schwierig, daran etwas Positives zu finden. Was aber neu und durchaus positiv in Deutschland ist: Es wird keiner zurückgelassen. Jedes Leben gilt als wichtig und schützenswert.

Aus jeder Pandemie kann man lernen. Foto: ©iStock.com/Ca-ssis
Aus jeder Pandemie kann man lernen. Foto: ©iStock.com/Ca-ssis

Sie sind Mitglied in der nationalen Akademie der Wissenschaften, der Leopoldina. Welche Ihrer Empfehlungen für die Bundesregierung flossen in die jüngste Stellungnahme der Leopoldina ein?

Fangerau: Gar keine, denn ich war nicht bei der Expertengruppe dabei, die jetzt in aller Munde ist. In die Empfehlung ist meines Wissens keine medizinhistorische Expertise eingegangen. 

Wenn stimmt, was Markus Söder in einem Fernsehinterview gesagt hat, ging auch keine virologische Expertise ein. Denn es gab keine Virologen in der Expertengruppe, oder?

Fangerau: Doch, soweit ich weiß, waren auch Personen mit virologischem Wissen dabei. Hier hat sich der Bayerische Ministerpräsident geirrt.

Die Leopoldina wurde für ihre Empfehlungen zum Teil heftig kritisiert – etwa zur stufenweisen Rückkehr in den Schulbetrieb. War diese Kritik überzogen?

Fangerau: Wer nichts tut, macht auch nichts verkehrt. Es ist leicht, Kritik zu üben, gerade weil das Virus unklar ist, die Behandlung unklar ist, und auch unklar ist, welche Folgen die aktuellen Bedingungen haben. Die Kritik wäre geübt worden, egal, was das Papier gesagt hätte. Ich persönlich finde es aber richtig, dass man in einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft darüber nachdenkt, Maßnahmen, die in individuelle Rechte eingreifen, sobald wie möglich weniger dramatisch zu machen. Wir befinden uns hier in einem Spannungszustand: Wenn man die Maßnahmen lockert und es geht gut, dann sagen hinterher alle: „Toll, alles richtig gemacht, wir hätten viel früher lockern sollen.“ Wenn die Infektionszahlen aber wieder steigen, wird man sagen: „Um Gotteswillen, hätten wir doch bloß nicht.“ Auch das lernen wir, auch wenn es eine unangenehme Lehre aus der Geschichte ist: Aus der Unsicherheit, aus dem Prinzip von Versuch und Irrtum, kommt man nie raus. Aber das Gute ist: Wenn man auf Sicht fährt, wie die Politik das gerade versucht, kann man immer wieder nachjustieren.

Welches ist die wichtigste Lehre, die wir aus Covid-19 ziehen sollten?

Fangerau: Man muss, wenn die Pandemie vorbei ist, alle getroffenen Maßnahmen und ihre Effekte analysieren. Pandemiepläne, die ja schon existieren, müssen überarbeitet werden und wir müssen danach handeln. Wir müssen Ressourcen vorhalten, die vielleicht Kosten verursachen und immer im Verdacht stehen, gar nicht gebraucht zu werden – die aber im Pandemiefall Leben retten und ungeheure Kosten sparen. Kurzum: Wir sollten Schlussfolgerungen ziehen, was wir künftig besser machen können und das auch umsetzen. Das klingt einfach und banal. Aber wenn man die Geschichte betrachtet, dann zeigt sich: Nach ihrem Abklingen war jede Pandemie schnell wieder vergessen und die Pandemiepläne verschwanden in den Schubladen. Das ist 1958 nach der Asiatischen Grippe passiert, das ist 1968 nach der Hongkong-Grippe passiert, das ist nach SARS 2009 passiert – bei Covid-19 darf es nicht wieder passieren.

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