Das ist neu in der Medizin: Ein Krebsmittel, das sich nicht mehr gegen ein von einem Tumor befallenes Organ richtet, sondern auf Signalwege abzielt, die Krebszellen wachsen lassen. In diesem Fall sind es Genfusionen so genannter NTRK-Gene (NTRK steht für Neurotrophe Tyrosin-Rezeptor Kinase). Sie sind Auslöser für verschiedene Tumorarten bei Erwachsenen und Kindern und wurden schon in über 30 verschiedenen Tumoren nachgewiesen. Das neue Arzneimittel greift hier ein und wirkt wachstumshemmend. Für den Onkologen Prof. Dr. Thomas Seufferlein vom Universitätsklinikum Ulm sind solche Wirkstoffe „der nächste Schritt zu einer individualisierten Therapie.“ (Pharma Fakten berichtete). Das Kapitel der Präzisionsonkologie ist aufgeschlagen.
Krebsmedikament: „hoher klinischer Stellenwert“ vs. „Zusatznutzen nicht belegt“
Ein erster Wirkstoff dieser Art erhielt im Jahr 2019 die Zulassung. In der so genannten Frühen Nutzenbewertung („AMNOG“-Verfahren) zu Larotrectinib heißt es im Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), der als höchstes Gremium der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen Herr des Verfahrens ist: „Ein Zusatznutzen ist nicht belegt“. Die Wissenschaftler aus dem Hause Bayer haben aus den klinischen Daten hingegen eine Gesamtansprechrate von 79 Prozent herausgelesen, bei Kindern und Jugendlichen sogar 94 Prozent, sowie ein Gesamtüberleben von 44,4 Monaten bei schnellem und langanhaltendem Ansprechen. Die Rede ist von einem „hohen klinischen Stellenwert“ und einem „außergewöhnlichen Patientennutzen“.
„Keinen Beleg für einen Zusatznutzen“ – das heißt zunächst einmal, dass die vom Unternehmen dargelegte Studienlage vom G-BA auf Basis der AMNOG-Methodik aus formalen Gründen nicht akzeptiert wurde. Es bedeutet zwar nicht unbedingt das Aus für eine neue Therapie. Aber eine Werbung ist es nicht gerade: Der Beschluss könnte dazu führen, dass Patienten, die von der Therapie profitieren könnten, gar nicht erst damit behandelt werden. Nicht zuletzt dürfte das Urteil Einfluss auf den Erstattungspreis haben, was auch nicht gerade innovationsfördernd wirken wird.
Ein Wirkstoff, die gleiche Datenbasis – zwei Welten prallen aufeinander. Im Wortprotokoll der mündlichen Anhörung des AMNOG-Verfahrens zu Larotrectinib kann man den Konflikt nachfühlen. Dahinter versteckt sich der Grunddissens, wie Daten bewertet werden sollen, die nicht auf Basis von randomisierten kontrollierten klinischen Studien (RCT) entstanden sind – etwa, weil es keine Kontrollgruppe gibt, in der Patienten eingeschlossen sind, die entweder ein Placebo bekommen oder eine andere Medikation.
Goldstandard mit Nachteilen: die randomisierten, kontrollierten Studien
RCTs gelten aufgrund ihres speziellen Studiendesigns als Goldstandard in der klinischen Forschung. Aber auch sie haben Nachteile. Die lange Studiendauer ist einer davon. Ein anderer: Bei Sprunginnovationen oder sehr seltenen Erkrankungen kommen RCTs an ihre Grenzen – etwa, wenn der Nutzen eines Medikamentes so hoch ist, dass die Fortführung der Kontrollgruppe unethisch wäre und diese deshalb „entblindet“ wird, damit auch diese Patienten profitieren.
Oder aber die Patientenzahl so gering ist, dass der statistische Wert dieser Gruppe keine Aussagekraft hat. TRK-Fusionstumore sind extrem selten. Nach dem heutigen Wissensstand liegt ihre Prävalenz bei allen soliden Tumoren im fortgeschrittenen oder metastasierten Stadium bei rund 0,2 Prozent. Wenn man so will, ist es eine „ultra-rare disease“ – eine extrem seltene Erkrankung, die sich auch noch über viele verschiedene Tumorarten verteilt. Das macht die Forschung nicht einfacher. Und die Entwicklung klassisch angelegter Studiendesigns erst recht nicht.
Eine Krebstherapie für Menschen, denen die Therapieoptionen ausgehen
Aber vielleicht macht es an dieser Stelle Sinn, sich einmal das Patientenprofil anzuschauen – also die Menschen, die sich hinter den Daten verbergen, die in klinischen Studien in Prozentzahlen zusammengefasst werden. Der Wirkstoff ist zugelassen zur Behandlung von Erwachsenen und Kindern mit soliden Tumoren mit einer NTRK-Genfusion, bei denen eine lokal fortgeschrittene oder metastasierte Erkrankung vorliegt oder eine Erkrankung, bei der ein chirurgischer Eingriff wahrscheinlich erhebliche gesundheitliche Nachteile nach sich zieht und für die keine zufriedenstellenden Therapieoptionen zur Verfügung steht. „Das bedeutet: Viele dieser Patienten gelten als austherapiert, der Tumor schreitet höchstwahrscheinlich fort“, beschreibt es Dr. Anja Gabriel, die beim Unternehmen Bayer für Themen zur Nutzenbewertung in Deutschland verantwortlich ist. „Ihre Perspektive ist in dem Sinne aussichtslos, als dass alle verbleibenden Maßnahmen kaum Aussicht auf Erfolg haben oder dass diese Maßnahmen ein hohes Risiko für Nebenwirkungen oder bleibende Schäden, zum Beispiel nach einer Amputation, mit sich bringen.“
Es sind Fälle wie der eines achtjährigen Mädchens mit einem Sarkom im Oberarmmuskel: Das Geschwür wurde so groß, dass sie im Alter von sechs Jahren operiert werden musste. 16 Monate später war der Krebs zurück. Die nächste Operation wäre wohl auf eine Amputation herausgelaufen. Doch mit dem neuen Medikament schrumpfte der Tumor, so dass er problemlos operiert werden konnte – der Wirkstoff hatte ihm buchstäblich den Hahn abgedreht. Bisher gibt es kein Anzeichen dafür, dass der Krebs zurück ist.
Das Unternehmen Bayer hat in dem vorgelegten Dossier zahlreiche Fälle von Kindern dokumentiert. Für 31 von ihnen war bis zum Einsatz des Wirkstoffes eine Amputation oder eine entstellende Operation die wohl einzige Option. Bei keinem der kleinen Patienten musste amputiert werden.
G-BA-Begründung: keine Vergleichsdaten
In den tragenden Gründen zum Zusatznutzenbeschluss listet der G-BA seine Bedenken auf: Leider habe das Unternehmen keine Daten einer Kontrollgruppe vorgelegt und auch auf historische Vergleiche verzichtet. Deshalb sei die Frage berechtigt, ob die vorgelegten Daten überhaupt repräsentativ seien.
Diese Frage kann man natürlich stellen. Ob sie der Situation gerecht wird, ist eine andere. Bayer legte dem G-BA die Daten aus den Zulassungsstudien bzw. die gepoolten Daten von 164 Patienten mit 17 verschiedenen Tumorarten vor. Die größte Patientenpopulation gibt es beim Weichteilsarkom (36 Betroffene) oder dem infantilen Fibrosarkom (32). Es gibt auch Auswertungen, in die nur ein Patient eingeschlossen wurde (z. B. Leberkarzinom). Selbst dem Laien wird klar: Rein theoretisch kann man solche vergleichenden Studien natürlich durchführen. Sie würden aber viele Jahre dauern, Unsummen kosten und dafür sorgen, dass die Betroffenen lange auf den therapeutischen Fortschritt warten müssten. TRK-Fusionstumore sind extrem selten; wir sprechen zum Glück nur von wenigen Tausend Patienten weltweit.
AMNOG-Bewertung: die Frage nach dem Risiko
Es ist schon fast eine philosophische Frage. Die Zulassung und die Nutzenbewertung von Arzneimitteln ist eine Abwägung zwischen dem Nutzen und den Risiken einer Intervention. Zulassungsbehörden kennen das Dilemma; sind sie doch sowohl den Vorwürfen ausgesetzt zu risikoscheu zu sein oder eben zu tolerant. Das Dilemma beschreibt der Chefmediziner der europäischen Zulassungsbehörde EMA, Dr. Hans-Georg Eicheler in einem Artikel für das Fachblatt Nature Reviews so: „Die negativen Konsequenzen regulatorischer Toleranz, dass Medikamente auf den Markt kommen, die sich als unsicher erweisen, sind offensichtlich. Aber das Potenzial nachteiliger Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit, die auf das Fehlen neuer Medikamente aufgrund regulatorischer Risikovermeidung zurückzuführen ist, ist weniger sichtbar.“ Die Patienten könnten dafür den Preis bezahlen, schreibt Eicheler, nämlich „durch die Verzögerung beim Zugang zu Therapeutika und durch verpasste therapeutische Optionen.“
Neue Medikamente wie das Larotrectinib sind per Definition Neuland. Langzeitrisiken können nicht bekannt sein. Die behandelnden Ärztinnen und Ärzte und ihre Patienten müssen das wissen, wenn sie über den Einsatz solcher Therapien entscheiden. Dem steht gegenüber, was Professor Dr. Olaf Witt, der für die Gesellschaft für pädiatrische Onkologie und Hämatologie (GPHO) bei der öffentlichen Anhörung teilnahm, formulierte: „Mit diesem neuen Medikament in den Fällen, in denen wir es gesehen haben, sehen wir tatsächlich ein Ansprechen, einen Benefit bei den Patienten, was wir in der Form noch nicht gesehen haben.“
Es bleibt der Eindruck, dass im AMNOG-Bewertungsverfahren eine starre Methodenlehre einer sich rasant weiterentwickelnden Wissenschaft hinterherläuft. Als Signal für ein innovationsoffenes Gesundheitssystem, das kranken Menschen die besten Therapien zur Verfügung stellen will, taugt das nicht.
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