Am 30.05.2020 ist Welt-MS-Tag. Das Motto: „Miteinander Stark“. Dr. Simone Hiltl von Novartis spricht über Therapiefortschritte bei der Behandlung der Krankheit. ©iStock.com/Zerbor
Am 30.05.2020 ist Welt-MS-Tag. Das Motto: „Miteinander Stark“. Dr. Simone Hiltl von Novartis spricht über Therapiefortschritte bei der Behandlung der Krankheit. ©iStock.com/Zerbor

Welt-MS-Tag: „Miteinander Stark“

Am 30.05.2020 ist Welt-MS-Tag unter dem Motto „Miteinander Stark“. Dr. Simone Hiltl vom forschenden Pharmaunternehmen Novartis spricht im Pharma Fakten-Interview über die Fortschritte in der Behandlung der Autoimmunkrankheit, den Forschungsschwerpunkten der kommenden Jahre und über das Thema Heilung.
Dr. Simone Hiltl. Foto: privat
Dr. Simone Hiltl. Foto: privat

Vor knapp 30 Jahren war die Diagnose „Multiple Sklerose“ (MS) für viele Patienten geradezu eine „Rollstuhl-Garantie“. Und heute?

Dr. Simone Hiltl: Die Therapielandschaft für Menschen mit MS, der „Krankheit mit den 1.000 Gesichtern“, hat sich rasant entwickelt. Während es in den 1990er Jahren noch keinerlei krankheitsmodifizierende Therapien für MS-Patienten gab, haben sich die Möglichkeiten 30 Jahre später drastisch verbessert und damit verknüpft auch die Lebensqualität der jeweiligen Patienten. Das ist ein fantastischer Fortschritt.

Wir können den Patienten eine Vielzahl an wegweisenden Therapien anbieten, welche ihre Selbständigkeit und Lebensqualität lange erhalten. Durch die Verbesserung der Diagnosekriterien und Entwicklung von Biomarkern ist es uns gelungen, die Krankheit deutlich früher zu diagnostizieren und damit effektiver zu behandeln. Die Multiple Sklerose ist zwar immer noch eine schwere Erkrankung, durch den therapeutischen Fortschritt aber eine immer besser zu behandelnde Krankheit mit einer deutlich besseren Prognose. Epidemiologische Studien zeigen, dass aus einer „de facto“ nicht therapierbaren Erkrankung eine Diagnose geworden ist, mit der Patienten oft ein fast normales Leben führen können.

Am 30. Mai ist Welt-MS-Tag. Foto: ©iStock.com/Andrii Kalenskyi
Am 30. Mai ist Welt-MS-Tag. Foto: ©iStock.com/Andrii Kalenskyi

Viele der MS-Patienten brauchen ihr Leben lang keinen Rollstuhl. Das hängt allerdings auch vom Schweregrad der MS ab und welche Symptome im Laufe der Jahre auftreten. Nicht umsonst heißt die MS auch „die Krankheit der 1.000 Gesichter“.

Es wurden große medizinische Fortschritte für MS-Patienten erreicht. Gilt das für alle Verlaufsformen?

Hiltl: Noch vor drei Jahren konnte der medizinische Fortschritt nicht bei allen Verlaufsformen schritthalten. In der Zwischenzeit hat sich glücklicherweise einiges getan.

Für die häufigste Verlaufsform, der schubförmig-remittierenden MS (relapsing remitting MS: kurz RRMS), lässt sich eine medizinische Erfolgsstory erzählen: hier gibt es bereits seit vielen Jahren unterschiedlichste Therapieoptionen, die den Angriff des Immunsystems auf die Nervenzellen bekämpfen. Außerdem gibt es auch ein für Kinder und Jugendliche zugelassenes Arzneimittel für die hochaktive Form der MS.

Allerdings war die Entwicklung im Bereich der progredienten MS deutlich weniger erfolgreich. Bei dieser Verlaufsform kommt es zur schleichenden Verschlechterung der MS-bedingten Einschränkungen unabhängig von akut auftretenden Schüben. Hier gab es lange Zeit, trotz intensiver, unermüdlicher Forschung, keine zugelassenen Medikamente. Es mussten viele Rückschläge und gescheiterte Entwicklungsversuche hingenommen werden. Das hat uns Wissenschaftler darin bestärkt, mit Resilienz die Komplexität dieser Autoimmunerkrankung weiter zu erforschen.

  • Für Patienten mit primär progredienter MS, bei denen die Erkrankung unaufhaltsam und ohne Regenerationsphasen fortschreitet, gibt es mittlerweile ein Medikament: eine sogenannte Antikörper-Therapie. 
  • Bei der sekundär progredienten Form der MS, die meist als zweites Stadium betrachtet wird, starten die Patienten ihre „Krankheitsgeschichte“ mit einer schubförmigen MS. Aufgrund der mit der Zeit zunehmenden intrinsischen Entzündungsaktivität innerhalb des Gehirns und der gleichzeitig reduzierten Kompensationsfähigkeit, geht diese Verlaufsform bei einem Teil der Patienten schleichend in eine sekundär progrediente MS. Dabei stehen nicht mehr die Schübe, sondern eine schleichende Verschlechterung der Erkrankung im Vordergrund. Auch hier kann nun eine Therapieoption angeboten werden, die die Stabilisierung der Erkrankung verfolgt.

Es hat sich also sehr viel getan.

Woran arbeitet die Arzneimittelforschung aktuell in Bezug auf MS?

Hiltl: Die heutigen Therapieoptionen zur Behandlung der MS können bei vielen Patienten einen Teil der Krankheitsschübe verhindern, das Fortschreiten der Erkrankung verlangsamen und letztlich die Lebensqualität der Patienten deutlich verbessern. Allerdings sind wir damit noch lange nicht am Ziel!

Deshalb arbeitet die Pharmaforschung gemeinsam mit Ärzten an innovativen Therapieoptionen, die gleichzeitig noch wirksamer und noch besser verträglich sind, sowie ein besseres Nebenwirkungsprofil aufweisen. Das Ziel ist, den Patienten eine frühzeitigere, effektivere Behandlung zu ermöglichen, um das Fortschreiten der Erkrankung bereits im Frühstadium zu stoppen. Gleichzeitig entwickeln wir uns immer mehr in Richtung personalisierte Medizin, um Patienten eine individuell abgestimmte und bestmöglich angepasste Therapieoption anzubieten. Durch den Einsatz moderner Diagnostik lässt sich oftmals abschätzen, wie der Patient auf das neue Medikament ansprechen wird, um unwirksame Therapieversuche bzw. ein Nicht-Ansprechen auf die Therapie zu vermeiden. Auch kann so die individuelle Dosierung des Arzneimittels auf den Patienten angepasst werden, um problematische Nebenwirkungen zu vermeiden.

Letztlich gibt es eine Vision, die alle forschenden Wissenschaftler vereint: die Heilung der MS. Ist dies im Bereich des Möglichen? Aufgrund der rasanten Arzneimittelentwicklung der letzten Jahrzehnte besteht sicherlich eine berechtigte Hoffnung. Ein noch besseres Verständnis der Krankheitsprozesse und Zusammenhänge wird uns helfen, Medizin neu zu denken und die MS hoffentlich dauerhaft in ihre Schranken zu verweisen.

Anfang des Jahres hat der Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft Bundesverband mit einem Bündnis aus Ärzten ein White Paper „Multiple Sklerose Versorgung 2030“ herausgebracht. Demnach müssen für eine optimale Versorgung und Teilhabe der Betroffenen noch einige Hürden aus dem Weg geräumt werden (s. Pharma Fakten). An welchen Stellschrauben muss in Ihren Augen im Sinne der Patienten gedreht werden?

Vision, die alle Wissenschaftler vereint: Heilung der MS. Foto: ©iStock.com/Zerbor
Vision, die alle Wissenschaftler vereint: Heilung der MS. Foto: ©iStock.com/Zerbor

Hiltl: Wir Menschen wollen im Allgemeinen vor allem eines: ein ganz normales Leben führen. Dies gilt auch für Menschen, die an MS leiden. Um dies im Sinne der Patienten zu ermöglichen, kommt der optimalen Versorgung eine wichtige Bedeutung zu. Ziel muss es sein, eine frühzeitige Diagnose möglichst flächendeckend stellen zu können. Zeitgleich muss ein konsequenter Zugang nicht nur zu immuntherapeutischen Therapien, sondern auch zu symptomatischen Behandlungen ermöglicht werden. Gerade für MS Patienten tragen diese komplementären Behandlungsoptionen, wie z. B. neuropsychologische Angebote, Neuroedukation, ambulante Neurorehabilitation, Physiotherapie etc., wesentlich zu einer verbesserten Lebensqualität und somit zu einer selbstbestimmteren Lebensweise bei.

Dies ist insbesondere für MS Patienten relevant, die die Diagnose der MS meist im jungen Lebensalter und damit mitten in der Lebensplanung trifft. Unsere Intention ist es, diese Patienten länger in der Erwerbstätigkeit zu halten, um deren berufliche und soziale Teilhabe zu stärken und ihnen ein unabhängiges und selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen.

Welche Rolle spielen heutzutage Therapiebegleitprogramme – zum Beispiel in Form von Apps – in der Behandlung von MS-Patienten?

Hiltl: Gerade MS Patienten müssen oftmals viele Bereiche ihres Lebens umstellen, regelmäßig Medikamente einnehmen und beim nächsten Arztbesuch auch noch berichten, wie es Ihnen in den letzten Wochen ergangen ist. Ganz ohne Hilfestellung wäre dies sicherlich schwierig! Insbesondere da die MS oft mit Symptomen wie Fatigue, Depression und kognitiven Störungen einhergeht.

Therapiebegleitprogramme sind ein unerlässlicher Partner. CC0 (Stencil)
Therapiebegleitprogramme sind ein unerlässlicher Partner. CC0 (Stencil)

Therapiebegleitprogramme sind deshalb ein unerlässlicher Partner, um Menschen mit MS bestmöglich im Alltag zu unterstützen und sind heutzutage aus der Therapielandschaft nicht mehr wegzudenken. Moderne Apps bieten neben der Erinnerung an die regelmäßige Medikamenteneinnahme eine Tagebuchfunktion, in welcher selbst erfasste Daten eine wichtige Grundlage für das nächste Arztgespräch darstellen. Auch aktuelle Informationen rund um die MS und die Möglichkeit mit kompetenten Ansprechpartnern, in patientenverständlicher Sprache, in den Dialog zu gehen, können dem Patienten eine große Hilfe sein.

Letztlich wird hierdurch die Kompetenz der Patienten gestärkt, ihre eigene Erkrankung besser zu meistern und die Verantwortung für ein selbstbestimmtes Leben zu übernehmen.

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