Ein Antidot – seit Jahren von vielen gefordert. Ein Medikament, dass nicht eine Krankheit adressiert, sondern die Wirkung eines anderen Medikamentes. Es hebt die gerinnungshemmende Wirkung auf bei Menschen, die eine bestimmte Form von Blutgerinnungshemmern einnehmen müssen – die so genannten Faktor-Xa-Inhibitoren.
Soll das Antidot zum Einsatz kommen, geht es meist um Leben oder Tod. Und darum, ob Menschen, die mit bestimmten sogenannten Blutverdünnern behandelt werden und mit schweren Hirnblutungen in ein Krankenhaus kommen, alles zur Verfügung steht, was die moderne Medizin zu bieten hat. Es ist Notfallmedizin par excellence, denn der Zeitfaktor ist entscheidend: „Time is brain“, sagen Neurologen und meinen: Wenn es ins Hirn blutet, muss die Blutung gestillt werden. So wirksam und so schnell wie möglich.
EMA: Ein ungedeckter medizinischer Bedarf
In Europa hat die Zulassungsbehörde EMA für zwei dieser auch in Deutschland zugelassenen Antikoagulantien ein Antidot zugelassen – ein Anti-Medikament zum Medikament also, dass die Hemmung der Blutgerinnung aufhebt oder – bildlich gesprochen – das Blut wieder verdickt. Unter Auflagen übrigens: Die Wächter über die in Europa zugelassenen Arzneimittel haben das entwickelnde Unternehmen Portola aufgefordert, weitere Studiendaten vorzulegen. Sie erteilten eine so genannte conditional marketing authorization, eine eingeschränkte Zulassung: „Das ist eines der regulatorischen Mechanismen in der EU, um einen frühen Zugang zu Medikamenten möglich zu machen, die einen ungedeckten medizinischen Bedarf erfüllen“, schreibt die EMA. Dies geschehe im Interesse der öffentlichen Gesundheit, wenn der Nutzen der kurzfristigen Verfügbarkeit das Risiko überwiegt, das darin besteht, dass noch nicht alle Daten verfügbar sind.
Antikoagulantien spielen in der Versorgung eine große Rolle; sie sind ein wichtigstes Instrument der modernen Medizin. Ihr Ziel: den Gerinnungsfaktor des Blutes verringern. Sie lassen das Blut fließen, damit es nicht zu Verklumpungen kommen kann, denn solche Gerinnsel sind das Letzte, was ein Mensch braucht. Die Folgen können verheerend sein; sie sind Auslöser für Herzinfarkte und Schlaganfälle. Wer also ein erhöhtes Herzinfarkt- oder Schlaganfallrisiko hat, kommt für eine Antikoagulation in Frage. In den vergangenen Jahrzehnten waren das vor allem so genannte Vitamin-K-Antagonisten. Seit ein paar Jahren gibt es die Klasse der direkt wirkenden oralen Antikoagulanzien (DOAK), die immer mehr Einzug in den Versorgungsalltag finden. Sie haben ein günstigeres Nutzen-Risiko-Profil und ein niedrigeres Blutungsrisiko. Ihr Einsatz wird von nationalen und internationalen Fachgesellschaften empfohlen.
G-BA sieht keinen belegbaren Zusatznutzen
Das sehen offenbar auch die verordnenden Ärzte in Deutschland so; der Markt ist in den vergangenen Jahren umgekrempelt worden. Nach Daten, die das Beratungsunternehmen IQVIA der Redaktion zur Verfügung stellte, wurden in den vergangenen zwölf Monaten (April 2019 bis März 2020) rund 12,5 Millionen Packungen zur Blutgerinnungshemmung abgegeben. Dabei verlieren die Vitamin-K-Antagonisten stetig an Bedeutung; sie machten zuletzt rund 18 Prozent der Verschreibungen aus. Fast 76 Prozent gehen auf das Konto der DOAKs.
Höhere Blutungsrisiken durch Medikamente? Der Einsatz von Antikoagulantien ist immer eine Risiko-Nutzen-Betrachtung. Ärztin oder Arzt wägen ab zwischen der Möglichkeit einem Herzinfarkt oder Schlaganfall vorzubeugen und dem Risiko, dass es mit „verdünntem“ Blut vermehrt zu Blutungen kommen kann. Das Dilemma ist so alt, wie es diese Medikamente gibt. Viele Mediziner fordern seit Jahren Antidots (und für einen weiteren Vertreter der DOAK gibt es auch schon länger eines).
Jetzt ist es da. Auf der Seiten des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) und des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), hält sich die Begeisterung in engen Grenzen: Der Zusatznutzen ist nicht belegt, hieß es am Ende der Frühen Zusatznutzenbewertung („AMNOG“-Verfahren), dem Arzneimittel-TÜV, in dem neue Medikamente belegen müssen, dass sie gegenüber bestehenden Therapien oder anderen medizinischen Eingriffen einen Zusatznutzen haben. Die Begründung: Der pharmazeutische Unternehmer habe keine vergleichbaren Daten vorgelegt.
Fünf Fachgesellschaften sehen Zusatznutzen
Professor Dr. Tilmann Sauerbruch, Facharzt für Innere Medizin, überrascht die Entscheidung zwar nicht; schließlich könne das IQWiG „aus seiner Methodik heraus den Zusatznutzen nicht sehen und zugeben“. Sauerbruch, das kann man in der mündlichen Anhörung zum Verfahren von Andexanet Alfa nachlesen, sieht aber „eine erhebliche Evidenz […], dass dieses Medikament bei diesen sehr, sehr gefährdeten Patienten einen Nutzen bringt, ohne zusätzliche Komplikationen hervorzurufen. Deswegen unterstützt die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) die vorläufige Finanzierung dieses Medikaments, bis die kontrollierten Studien da sind.“ In einem gemeinsamen Statement sehen die DGIM, die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie (DGK), die für Neurologie, die Deutsche Schlaganfall-Gesellschaft sowie die Gesellschaft für Thrombose- und Hämostaseforschung (GTH), bei einer Magen-Darm-Blutung „in den bisher vorgelegten Daten“ keinen Hinweis auf einen Zusatznutzen. Aber: „Im Gegensatz zur intrazerebralen Blutung, wo wenige Milliliter Blut, nicht Liter, sondern wenige Milliliter Blut, bereits desaströs sein können und das Schicksal des Patienten im Hinblick auf seine spätere Behinderung determinieren können. Deswegen sehen wir für diese Indikation, nämlich die intrazerebrale Blutung unter Antikoagulation mit Rivaroxaban und Apixaban, durchaus Hinweise auf einen geringen Zusatznutzen“, erklärte Professor Harald Darius von der DGK.
Nach Ansicht von Portola-Geschäftsführer Martin Völkl tut das Präparat, was es soll und „ermöglicht es den Behandlern, die lebensbedrohliche Blutung und damit die Notfallsituation des Patienten wieder unter Kontrolle zu bringen.“ Das Unternehmen sieht in seinem Medikament einen zentralen weiteren Baustein für Patienten in Notfallsituationen mit lebensbedrohlichen Blutungen. „Es ist aus unserer Sicht unverzichtbar für die Versorgung in Deutschland“, so Völkl.
Arzneimittelzulassung: Der Streit um die Evidenz
Nun heißt „Kein Beleg für einen Zusatznutzen“ nicht per se, dass das Medikament Patienten nicht zur Verfügung steht. Ob aber Therapien, denen von amtlicher Seite ein Zusatznutzen nicht erteilt wird, es flächendeckend in die Arzneimittelschränke der Krankenhausapotheken schaffen, ist eine andere Frage. Die Chancen, eine schwere Hirnblutung zu überstehen, könnte dann zu einem Lotteriespiel werden.
Bei der Bewertung und Zulassung neuer Arzneimittel kann man zwei Wege gehen – es ist das große Dilemma der Zulassungsbehörden:
- Man lässt ein Medikament früh mit noch wenigen Daten zu (Weg 1). Vorteil: Eine möglicherweise wichtige und lebensrettende Innovation steht den Patienten früher zur Verfügung. Das Risiko: Über Wirkung und Nebenwirkungen ist noch nicht alles bekannt. Wirkungen könnten möglicherweise überschätzt, Nebenwirkungen übersehen oder unterschätzt werden.
- Oder man lässt es spät zu (Weg 2). Vorteil: Wartet man bessere Daten ab, deren Gewinnung immer Zeit kostet, dann weiß man mehr über Wirkung und Sicherheit des Präparats. Nachteil: Patienten können zu Schaden kommen, weil ihnen eine bessere Behandlungsmöglichkeit entgeht. Die Versorgung von Patienten bleibt hinter den wissenschaftlichen Möglichkeiten zurück.
Welcher Weg besser ist, lässt sich nicht für alle Präparate und Krankheiten gleich beantworten. In der Tendenz lässt sich jedoch sagen: Geht es um Leben und Tod und gibt es gute Gründe dafür, dass das Präparat hier etwas bewirken kann, dann verliert das Risiko des Nichtwissens an Bedeutung. Und das Risiko der Zeitverzögerung gewinnt an Gewicht.
Aufgrund der Daten und ihrer Expertise haben die medizinischen Fachgesellschaften zumindest für den Bereich der Hirnblutungen den ersten Weg vorgeschlagen – und auch die EMA hat diese Philosophie offenbar getragen, als sie das Präparat europaweit zuließ. G-BA und IQWiG haben sich trotzdem für die zweite Variante entschieden – es fehlt ihnen an Evidenz.
Das mit der Evidenz ist offenbar Interpretationssache. So erklärte Dr. Jan Beyer-Westendorf von der Uniklinik in Dresden in der mündlichen Anhörung: „Das Einzige, was diese Substanz macht, ist, die blutverdünnte Wirkung der Faktor-X-Hemmer binnen Minuten aufzuheben. Wir sehen: Bei 80 Prozent der Patienten stabilisiert sich dann die Blutung. Ich glaube, eine viel bessere Korrelation zwischen dem, was wir in der Historie aus Blutungsmanagement gelernt haben, und dem, wie die Studie dann konzipiert wurde und was sie gezeigt hat, kann man eigentlich nicht erwarten. Ich persönlich würde es sehr als Evidenz bezeichnen wollen.“
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