Es gab eine Zeit, da wurden Frauen von klinischen Prüfungen mit neuen Arzneimitteln ausgeschlossen. Warum?
Dr. Michael Busse: Größtenteils aus Sicherheitserwägungen heraus – nicht zuletzt auf Grund der Contergan-Katastrophe. Man wusste zu dieser Zeit zu wenig, was wirklich mit den Embryonen im Mutterleib passiert. Und so wurden z.B. von der US-Zulassungsbehörde FDA zwischen 1977 bis 1993 Frauen komplett von der Phase I der klinischen Studien ausgeschlossen.
Aber das ist heute anders…
Busse: Ganz genau. In Europa muss seit 2001 und in Deutschland seit 2004 eine angemessene Gewichtung der verschiedenen Geschlechter in der klinischen Forschung stattfinden. In der frühen klinischen Entwicklung, der so genannten Phase I, also bei der ersten Anwendung eines neuen, noch nicht zugelassenen Medikaments am Menschen, sind wir immer noch recht restriktiv. In dieser Studienphase geht es im Grunde weniger um die Wirksamkeit des Medikaments als vielmehr um die Sicherheit und Verträglichkeit sowie die Pharmakodynamik und Pharmakokinetik, also wie das Medikament verteilt und aufgenommen wird und wie es an den Rezeptoren wirkt. Dafür benötigen wir unter anderem präklinische Daten, damit das Medikament für die Erstanwendung und auch für die Anwendung in der Frau überhaupt zugelassen wird.
Heißt das: Wir können das Risiko der Erstanwendung in Frauen heute besser managen?
Busse: Das Risiko ist auch heute noch da, aber man versucht es zu minimieren – etwa dadurch, dass man in präklinischen Studien verschiedene Testreihen und Reproduktionstests an verschiedenen Tierspezies durchführt, bevor es bei Frauen überhaupt zum Einsatz kommt.
Unterschiedliche Regeln gibt es auch, je nachdem um welches Medikament es sich handelt: Wenn es ein Arzneimittel ist, das beispielsweise bei sehr alten Menschen angewendet wird – bei denen eine Schwangerschaft überhaupt nicht mehr stattfinden kann – dann ist das auch viel weniger ein Problem als bei Medikamenten für vorwiegend junge Menschen.
Heute gilt: Arzneimittel, die sowohl für Männer als auch für Frauen bestimmt sind, werden auch mit beiden Geschlechtern erprobt. Wieso ist das so wichtig?
Busse: Ein Beispiel: Migräne ist ein Problem, das verstärkt Frauen betrifft. Deshalb fragen wir uns bei der Planung der Studien: Wie ist die Krankheit in der Bevölkerung vertreten? Die Verteilung einer Erkrankung ist selten halbe-halbe: Es gibt Krankheiten, die ausschließlich bei Frauen auftreten, wie Gebärmutterkrebs. Und Krankheiten, die es nur bei Männern gibt, wie Hodenkrebs. Und es gibt Krankheiten, die vermehrt ein Geschlecht mehr betreffen als das andere – siehe die Migräne. Deshalb macht es auch keinen Sinn, in klinischen Studien generell eine 50:50-Balance anzustreben – denn hinterher muss die zu behandelnde Patientengruppe repräsentiert sein.
Weshalb wirken Medikamente bei Frauen manchmal anders als bei Männern?
Busse: Am Ende einer klinischen Studie haben wir für jeden einzelnen Patienten sehr, sehr viele Daten; darunter natürlich das Geschlecht, aber auch Alter oder das Körpergewicht. Dann folgen Analysen, um herauszufinden, ob diese verschiedenen Faktoren in Verbindung miteinander stehen. Und dann sehen wir, dass bei vielen Medikamenten Themen wie das Alter, die Fettverteilung im Körper, Leberwerte oder andere Medikamente, die zusätzlich genommen werden, viel entscheidender sind als die Frage des Geschlechts. Aber es geht noch komplizierter: In einer bestimmten Population rauchen Männer immer noch häufiger als Frauen, aber Frauen nehmen häufiger Hormonpräparate ein. Es besteht also eine Verbindung mit dem Geschlecht, das allerdings nicht die direkte Ursache ist. Um es auf den Punkt zu bringen: Der Unterschied zwischen den einzelnen Menschen ist meist größer als zwischen den einzelnen Geschlechtern.
Es ist also wichtig, dass selbst bei Medikamenten, bei denen beide Geschlechter gleichgewichtig vertreten sind, durch verschiedene Lebensstile und anderes Verhalten die Forschung trotzdem geschlechterspezifisch stattfinden muss …
Busse: Wir wollen über unsere Substanz so viele Informationen wie möglich entdecken, bevor wir das Medikament auf den Markt bringen. Es ist in unserem Interesse, so viele verschiedene Konstellationen von Erkrankungen mit verschiedenen Geschlechtern, Lebensgewohnheiten, Alter, Größe, Fettgehalt, etc. zu erforschen, bevor wir es auf den Markt bringen. Wir haben selbst das größte Interesse, dass die Substanz für die Patienten sicher ist und gut wirkt.
Wir gehen immer mehr in die Richtung der personalisierten Medizin, d.h. wir sorgen dafür, dass jeder Einzelne nicht nur das richtige, sondern auch das richtig dosierte Medikament bekommt. Wir haben viele Medikamente, die individuell dosiert werden.
Haben Sie Beispiele?
Busse: Zum Beispiel Insulin- oder Blutdruckmedikamente. Hier bekommt nicht jeder Patient die gleiche Dosis, um einen bestimmten Effekt zu erzielen, der dann gemessen wird. In diesen Fällen wäre es der Zuckerwert, der Blutdruck oder sogar der Wirkstoff an sich. Bei einem Epilepsiemedikament beispielsweise muss ein empfohlener Blutspiegel erreicht werden. Wenn ein Patient eine Leber hat, die das schneller abbaut, muss man mehr geben. Baut sie langsamer ab oder ist es durch andere Medikamente gehemmt, muss man weniger geben. Das heißt aber nicht, dass das Medikament sicherer oder unsicherer ist, sondern nur dass der Patient mehr oder weniger Wirkstoff braucht, um den entscheidenden Effekt zu erreichen. Das ist Teil der personalisierten Medizin.
Das ist die Richtung: Was braucht der Patient und was braucht das einzelne Individuum? Hier spielt dann die Geschlechterfrage gar nicht mehr eine so große Rolle, da man bei jedem einzelnen Patienten guckt, wie hoch z.B. der Blutzucker ist.
Müssen Sie in klinischen Studien für einen neuen Wirkstoff auch testen, wie der sich bei der Einnahme mit anderen Medikamenten verhält?
Busse: In Kombination mit gängigen Medikamente muss ein neuer Wirkstoff für die Zulassung getestet werden. Schauen wir uns ein Diabetesmedikament an: Da weiß ich, dass diese Patientenpopulation sehr häufig einen Blutdruck- oder Fettsenker nimmt.
Um den sicheren Gebrauch des neuen Medikaments zu gewährleisten, müssen etwaige Wechselwirkungen vor der Zulassung getestet werden. Da wir wissen, dass sehr viele Menschen diese Medikamente nehmen, ist es wichtig, möglichst viel über mögliche Interaktionen zu wissen.
Übrigens sammeln wir nicht nur Daten bis zur Zulassung, sondern darüber hinaus – auch, wenn das Medikament schon auf dem Markt ist. Und nicht nur die Sicherheits-, sondern auch die Wirksamkeitsdaten. Denn sobald ein Medikament zugelassen ist, nimmt es eine viel breitere Bevölkerungsgruppe ein und da kann es Konstellationen geben, die man vorher nicht erforschen konnte. Sehr seltene Nebenwirkungen, die nicht in den klinischen Prüfungen auftraten, zeigen sich teilweise erst im wirklichen Gebrauch. Ein wichtiger Teil der Entwicklung findet also auch nach der Zulassung statt.
Gibt es noch einen Verbesserungsbedarf in Bezug auf Frauen in klinischen Prüfungen?
Busse: In den 80er Jahren wurden gar keine Frauen zu klinischen Studien der Phase I zugelassen. In den Phasen II und III war der Frauenanteil meist auch geringer. Vor diesem Hintergrund sind wir deutlich besser geworden. Heutzutage ist es so, dass in der Phase I unter einer strikten Schwangerschaftsverhütung Frauen zugelassen werden können und sogar erwünscht sind. Hier haben wir einen Frauenanteil von 10 bis 40 Prozent. Problematisch wird es bei den Medikamenten, bei denen die Pille nicht als Schwangerschaftsverhütungsmaßnahme wegen einer möglichen hormonellen Interaktion zugelassen wird. Da muss man sich an Frauen wenden, die aus anderen Gründen keine Kinder bekommen können.
Wie hoch ist denn der Frauenanteil in klinischen Studien?
Busse: In Phasen II und III ist der Frauenanteil je nach Indikation zwischen 30 und 80 Prozent und damit ein repräsentativer Anteil. Wichtig ist: Der Anteil der Frauen, also die reine Prozentzahl, ist gar nicht das Entscheidende. Es ist viel wichtiger, dass wir eine statistische Aussagekraft erreichen können. Neben „Mann“ und „Frau“ gibt es noch viele andere Subgruppen, und dadurch, dass wir insgesamt doch sehr viele Frauen in den klinischen Studien haben, reicht es statistisch gesehen aus, um die wichtigen Fragen für die Zulassung zu klären.
Die Forderung von den Zulassungsbehörden ist, dass wir eine angemessene Repräsentation von beiden Geschlechtern haben. Das gilt andersherum auch: Es ist beispielsweise schwierig, Männer für klinische Tests für ein Migränemedikament zu rekrutieren. Bei onkologischen Präparaten haben wir dagegen kaum Probleme mit der Geschlechtsverteilung. Wir sind also schon deutlich besser als noch in den 70er Jahren, als Frauen in klinischen Studien sehr viel kritischer gesehen wurden.
Im Übrigen müssen die pharmazeutischen Unternehmer seit 2011 auch im Rahmen der Frühen Nutzenbewertung neu zugelassener Medikamente geschlechtsspezifische Auswertungen vorlegen. Solche Daten könnte man aber gar nicht liefern, würde man Frauen aktiv aus der klinischen Forschung ausschließen.
Aber wie gesagt: Daran haben wir gar kein Interesse, denn erstens wollen wir vor der Zulassung so viele Daten wie möglich generieren. Und zweitens wollen wir so schnell wie möglich Patienten rekrutieren, und wenn wir für beide Geschlechter öffnen, geht das natürlich schneller.
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