„Durch jahrzehntelange wissenschaftliche Forschung wissen wir heute, dass Krebs nicht eine einzelne Krankheit ist“, heißt es in dem Report „Researching Cancer Medicines: Setbacks and Stepping Stones“. Stattdessen meint Krebs eine Vielzahl an unterschiedlichen Leiden, die eines gemeinsam haben: das Wachstum abnormaler Zellen.
Schritt für Schritt lernte die Wissenschaftsgemeinschaft dazu: Wurde ein Tumortyp lange Zeit vor allem durch den Ort, von dem aus sich die Krebszellen im Körper verbreiten, definiert, spielen heute die individuellen Eigenschaften auf zellulärer und molekularer Ebene eine große Rolle. Das heißt: Lungenkrebs ist nicht einfach Lungenkrebs – sondern weist von Patient zu Patient unterschiedliche Charakteristika auf. Dieses wachsende Wissen gepaart mit der kontinuierlichen klinischen Forschung an Arzneimittelkandidaten hat zu einer Verschiebung weg von einem „one-size-fits-all“-Ansatz hin zu einer großen Auswahl an Therapiemöglichkeiten geführt – darunter Chemotherapie, Bestrahlung, Operation, zielgerichtete Medikamente oder innovative Immunonkologika.
Krebsforschung: Es gibt noch viel zu lernen
Der medizinische Fortschritt ist noch nicht für alle Tumortypen gleich groß. Während bei manchen eine Heilung möglich ist, ist es bei anderen noch immer eine große Herausforderung positive Effekte auf die Lebenszeit der Betroffenen zu erzielen. Und daher gilt: Die Wissenschaftler weltweit verstehen zwar „Krebs“ immer besser – aber sie haben auch gelernt, dass es noch so einiges gibt, was sie nicht wissen.
„Die Komplexität von Krebs wird im Prozess der Medikamentenentwicklung reflektiert“, so PhRMA. „Forscher stehen vor vielen einzigartigen und einschüchternden Herausforderungen“ – schließlich finden Krebszellen oft Wege das Immunsystem auszutricksen und resistent gegenüber Arzneimitteln zu werden. Und doch wird die Behandlung immer besser; die (altersadjustierten) Sterberaten fallen (s. Pharma Fakten). Rückschläge sind „inhärenter Bestandteil der Krebsforschung“, weiß der Pharmaverband. „Sie sind keine vergeudete Mühe.“ Denn das daraus Gelernte können die Wissenschaftler in kommenden Forschungsprojekten anwenden – bis eines Tages ein Durchbruch gelingt.
Medizinischer Fortschritt: kein geradliniger Weg
PhRMA hat in dem aktuellen Bericht den schwarzen Hautkrebs, Hirnkrebs, akute myeloische Leukämie (AML) sowie Nieren-, Leber-, Lungen-, Bauchspeicheldrüsen-, Eierstock- und Prostatakrebs unter die Lupe genommen. „Seit 1998 gab es einige nicht erfolgreiche Versuche; aber auch manch Triumphe, wenn es Medikamente entgegen aller Wahrscheinlichkeit schafften eine Zulassung bei der US-amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA zu erlangen“.
Laut PhRMA-Vorstandsvorsitzenden Giovanni Caforio zählte der Pharmaverband in Bezug auf die klinische Entwicklung über die neun untersuchten Tumorformen hinweg 1.366 durchgefallene Wirkstoffkandidaten und 115 Zulassungen im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre. PhRMA warnt allerdings davor, daraus eine Erfolgsrate pharmazeutischer Forschung ableiten zu wollen: Denn der Datensatz, auf den sich die Experten beziehen, geht maximal auf das Jahr 1998 zurück. Die Rückschläge, die zum Beispiel zu Medikamentenzulassungen in genau diesem Jahr führten, sind nicht eingerechnet.
Auch bezieht PhRMA in seinem Bericht nur Projekte der klinischen Entwicklung ein. Der Verband der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa) erklärt in dem Artikel „So entsteht ein neues Medikament“ mit Blick auf die frühen Forschungsphasen und die präklinische Entwicklung: „Von 5.000 bis 10.000 Substanzen, die nach dem Screening hergestellt und untersucht werden, kommen im Durchschnitt nur neun in ersten Studien mit Menschen zur Erprobung, und nur eine erreicht tatsächlich später den Markt“ (s. Grafik).
Hirnkrebs: Herausforderung Blut-Hirn-Schranke
Trotzdem verdeutlichen die Zahlen aus dem PhRMA-Bericht, wie herausfordernd Krebsforschung ist. Ein Beispiel: Hinter dem Begriff Hirnkrebs verstecken sich 130 verschiedene Typen. Am häufigsten und aggressivsten bei Erwachsenen ist das Glioblastom. Betroffene „haben nach Diagnose eine durchschnittliche Lebenserwartung von elf bis fünfzehn Monaten; die Fünf-Jahres-Überlebensrate liegt abhängig vom Alter bei fünf bis 19 Prozent“, heißt es in dem Bericht.
Eine große Hürde für die Arzneimittelforschung stellt die Blut-Hirn-Schranke (s. Pharma Fakten) dar: Sie schützt das Gehirn vor schädlichen Substanzen, die im Blut zirkulieren, aber nicht ins Gehirn vordringen dürfen. Dadurch haben es auch Medikamente schwer dort einen Tumor anzugreifen. Und selbst wenn es ein Wirkstoff durch die Blut-Hirn-Schranke schafft, kann es sein, dass er (zu) schnell wieder abgestoßen wird.
Seit 1998 mussten Wissenschaftler bei 122 klinischen Arzneimittelkandidaten Rückschläge hinnehmen: Ihre Entwicklung wurde eingestellt, unterbrochen oder nicht weiterverfolgt. „Angesichts der großen Herausforderungen sollte das langsame Tempo des Fortschritts in der Hirnkrebs-Behandlung kein Grund sein sich entmutigen zu lassen“, heißt es in einem Artikel vom Fachmagazin „Nature“. „Dank der Menschen, die an Studien teilnehmen, und der Entschlossenheit von Forschern und Klinikärzten […] können wir trotzdem wichtige Einblicke gewinnen“. In den vergangenen 20 Jahren gab es drei neue Medikamentenzulassungen. Und aufgeben ist nicht: Laut PhRMA bauen die Wissenschaftler auf den Rückschlägen der Vergangenheit auf, um mit diesen Erfahrungen die Medikamentenentwicklung weiter voranzutreiben.
Akute myeloische Leukämie: Arzneimittelinnovationen
Das haben auch Forscher im Kampf gegen die akute myeloische Leukämie (AML) – ein Blutkrebs – getan. Das Ergebnis: „Seit 2017 gab es eine Explosion an neuzugelassenen Behandlungsoptionen“, schreiben drei Medizinerinnen im „Journal of Hematology & Oncology“. 2019 erklärte der Hämatologe Dr. Mrinal Patnaik: „In den vergangenen zwei Jahren haben mindestens vier neue personalisierte Medikamente, die auf Schlüssel-Gene abzielen, den Behandlungserfolg bei den Patienten verbessert“. Er spricht von einem “Paradigmenwechsel”.
PhRMA erklärt: „Der jüngste Stoß an Zulassungen für AML folgt auf fast zwei Jahrzehnte, in denen es keine größeren neuen Therapieoptionen für die Erkrankung gab. Aber während dieser Zeit arbeiteten Forscher unermüdlich daran, die genetischen Treiber von AML besser zu verstehen, und erprobten potenzielle Therapien.“ Auf 91 klinische Arzneimittelprojekte, die es nicht geschafft haben, kamen seit 1998 sieben zugelassene Medikamente.
Pharmazeutische Forschung arbeitet mit Rückschlägen
Neben dem Hirnkrebs und der AML gibt es zahlreiche weitere Beispiele im PhRMA-Report, die verdeutlichen, dass es ohne Rückschläge nicht geht:
- Schwarzer Hautkrebs: 158 in der klinischen Entwicklung durchgefallene Wirkstoffe, zwölf FDA-Zulassungen (seit 1998)
- Nierenkrebs: 96 durchgefallen, elf zugelassen
- Leberkrebs: 73 durchgefallen, fünf zugelassen
- Lungenkrebs: 268 durchgefallen, 32 zugelassen (kleinzelliges Lungenkarzinom: 51 durchgefallen, vier zugelassen)
- Bauchspeicheldrüsenkrebs: 131 durchgefallen, sieben zugelassen
- Eierstockkrebs: 139 durchgefallen, 13 zugelassen
- Prostatakrebs: 237 durchgefallen, 21 zugelassen
Für alle diese Krebstypen gilt: Medizinischer Fortschritt ist kein geradliniger Weg. Manchmal geht es einen Schritt zurück, um danach zwei Schritte voranzukommen. Und nicht bei jedem dieser Tumoren sind Wissensstand und die bereits verfügbaren Behandlungsmöglichkeiten gleich groß.
Beim Prostatakrebs beispielsweise liegt die Fünf-Jahres-Überlebensrate laut PhRMA bei 99 Prozent; das Spektrum verfügbarer Behandlungsmöglichkeiten ist bereits breitgefächert. Hier geht es v.a. darum, neue Therapieoptionen für fortgeschrittenen, resistenten oder rezidivierenden Tumor zu entwickeln. Beim (rezidivierenden) Eierstockkrebs arbeiten Wissenschaftler daran, eine potenziell tödliche Erkrankung in eine chronische zu wandeln. Denn jüngste Neuerungen in der Therapie haben es ermöglicht, dass einige Patienten zeitweise frei von Symptomen leben.
Beim Bauchspeicheldrüsenkrebs liegt die Fünf-Jahres-Überlebensrate dem Bericht zufolge erst bei neun Prozent. Und auch das ist, so PhRMA, schon Ausdruck medizinischen Fortschritts, lag die Rate 2010 doch noch bei sechs Prozent. Geforscht wird nun u.a. an Immuntherapien. Doch bislang erwies sich Bauchspeicheldrüsenkrebs als resistent gegenüber derartigen Wirkstoffkandidaten.
„Wissenschaftler arbeiten daher daran, besser zu verstehen, warum dieser Tumortyp so gut darin ist, sich vor dem Immunsystem zu verstecken“, erklärt der Pharmaverband. „Wir brauchen [im Gegensatz zu Chemotherapie] besser verträgliche Medikamente, die eine gute Lebensqualität erlauben. Bauchspeicheldrüsenkrebs ist ohne Frage eine der schwierigsten Krebsarten“, sagt der US-amerikanische Wissenschaftler Howard Crawford.
PhRMA macht Mut: „Viele Ansätze werden im Labor erprobt. Aktuell gibt es über 700 klinische Studien für Bauchspeicheldrüsenkrebs, die aktiv sind oder bei denen die Rekrutierung läuft.“ Auch hier werden einige Kandidaten nicht ans Krankenbett kommen – aber mit jedem Rückschlag wächst das Wissen und damit die Wahrscheinlichkeit auf Erfolg.
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