Diese Zahl spricht für sich: „Ganze drei Prozent der Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherungen entfallen auf Prävention“, erklärte Reinhard Busse, Professor für Management im Gesundheitswesen an der TU Berlin, gleich zu Beginn der Veranstaltung. Doch das könnte sich in den kommenden Jahren ändern. Der Springer Medizin Verlag und das Pharmaunternehmen Pfizer haben nämlich im Sommer 2019 die Initiative „Gesundheitsvorsorge der Zukunft“ ins Leben gerufen. Die 40 Teilnehmenden erarbeiteten in drei Workshops und vielen Diskussionen zehn Thesen und 27 Maßnahmen, die das Gesundheitssystem ganz neu ausrichten könnten – und zwar darauf, Krankheiten so gut es geht zu verhindern.
Die „Berliner Erklärung“ im Wortlaut
Die zehn Leitprinzipien der „Berliner Erklärung“ im Überblick: Die Gesundheitsvorsorge der Zukunft…
- … denkt über Sozialgesetzbücher hinaus und ist in jedem Politikbereich etabliert
- … ist agil
- … ist eine lebenslange Erziehungs- und Bildungsaufgabe
- … überwindet soziale Ungleichheiten
- … denkt über einzelne Settings hinaus
- … vermeidet Unterversorgung
- … vermeidet Überversorgung
- … verbindet ärztliche und nicht-ärztliche Kompetenz
- … nutzt alle zur Verfügung stehenden Datenquellen
- … setzt auf Anreize
Konkrete Maßnahmen inklusive
Zu jedem dieser Vorschläge empfiehlt die Initiative, deren Schirmherr Busse ist, auch konkrete Maßnahmen. Dazu zählt unter anderem ein Gesundheitskabinett, wie es bei Corona bereits etabliert wurde, ein Think-Tank mit Vordenkern unterschiedlicher Disziplinen, Aufklärung über gesundheitsbewusstes Verhalten, Pilotprojekte und passgenaue Angebote für sozial benachteiligte oder ältere Menschen. Doch Gesundheitsvorsorge umfasst noch mehr: Etwa eine gesundheitsfördernde Stadt- und Raumplanung, Arztgespräche über individuelle Gesundheitsvorsorge oder auch eine bessere Datenerfassung und -auswertung als Grundlage für gezielte Vorsorgemodelle. Damit möglichst viele Menschen so gesund wie möglich bleiben, sollte es auch Anreize geben: So könnten gesundheitsförderliche Produkte und Aktivitäten steuerlich begünstigt, schädliche hingegen verteuert werden.
Rudolf Henke, CDU-Bundestagsabgeordneter und Präsident der Ärztekammer Nordrhein, betonte, dass Gesundheitsprävention auf kommunaler Ebene beginnen müsse. Zudem warnte er davor „Prävention und Behandlung gegeneinander auszuspielen. Prävention statt Behandlung, das wäre die falsche Alternative.“
Klimaschutz ist auch Gesundheitsschutz
Nach Ansicht von Kirsten Kappert-Gonther, die als Obfrau der Grünen im Gesundheitsausschuss des Bundestages vertreten ist, „passen Prävention und Behandlung gut zusammen.“ Sie unterstützt alle Punkte der Berliner Erklärung, betonte allerdings auch: „Die Verhältnisse, unter denen Menschen leben, haben einen großen Einfluss auf ihre Gesundheit.“ So gingen in Europa jedes Jahr 400.000 vorzeitige Todesfälle „auf das Konto von Luftverschmutzung“. Und natürlich fördere zum Beispiel Radfahren die Gesundheit, aber eben nur dann, „wenn es auch gute Radwege gibt.“ Grundsätzlich gelte: „Was dem Klimaschutz dient, das dient auch dem Gesundheitsschutz – und zur Gesundheitsvorsorge gehört auch die Energie- und Verkehrswende.“ Kappert-Gonther ist davon überzeugt, dass mit der Berliner Erklärung ein „hervorragendes Papier“ vorliegt, auf dessen Ideen sich aufbauen lasse.
Das sieht Heidrun M. Thaiss, Leiterin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, ganz ähnlich. Sie sagt: „Die Zeit ist reif für diese Berliner Erklärung“. Denn noch nie seien die Menschen so sensibilisiert für Gesundheitsthemen gewesen wie gerade jetzt in der Corona-Pandemie. Wie Kappert-Gonther plädierte auch Thaiss dafür, „das Thema Gesundheit breit zu denken – es hat auch mit Lebensqualität zu tun, mit Umwelt- und sozialen Faktoren.“ Ginge es nach ihr, dann gäbe es nicht nur Leitlinien bei der Behandlung von Krankheiten, sondern bald auch entsprechende Leitlinien zur Prävention.
Weshalb ein Pharma-Unternehmen die Gesundheitsvorsorge fördert
Moderator Wolfgang van den Bergh, Chefredakteur der Ärztezeitung, zeigte sich überrascht, dass sich mit Pfizer ein Pharmaunternehmen für Prävention einsetzt und diese Initiative mitbegründet hat. Martin Fensch, Leiter Corporate Affairs bei Pfizer, verwies in seiner Antwort darauf, dass auch Impfungen zur Gesundheitsvorsorge zählen. Pfizer entwickelt Impfstoffe und hat auch Arzneien zur Rauchentwöhnung oder zur Schlaganfallvorsorge im Portfolio – Gesundheitsvorsorge widerspricht den Unternehmenszielen also nicht. Martin Fensch: „Unser Ziel muss die Gesundheit der Menschen sein – Behandlung ist dabei die eine Seite, Prävention die andere. Wenn das Gesundheitswesen gut funktioniert, dann profitieren alle davon – deshalb sind wir gerne dabei.“
Über einen Smartphone-Link konnte während der Veranstaltung darüber abgestimmt werden, wie gut Deutschland in der Gesundheitsvorsorge bereits aufgestellt ist – dazu konnte jede der 10 Thesen auf einer Skala zwischen 0 und 10 bewertet werden. Ergebnis: Mit 4,67 Durchschnittspunkten schneidet „…vermeidet Unterversorgung“ am besten ab. Das Schlusslicht bildete mit 3,55 Punkten die Aussage „…nutzt alle zur Verfügung stehenden Datenquellen.“
In der Schlussrunde forderte Kirsten Kappert-Gonther von sich und allen anderen Bundestagsabgeordneten: „Wir sollten jede politische Entscheidung auf ihre gesundheitliche Relevanz überprüfen.“ Rudolf Henke plädierte dafür, die Ärzte stärker in die Gesundheitsvorsorge einzubinden – sie seien nah dran an ihren Patienten und könnten viel bewirken, wenn es zum Beispiel darum gehe, Menschen zu mehr Bewegung oder besserer Ernährung zu motivieren. Martin Fensch erklärte: „Wir haben Grund, optimistisch zu sein: 44 Prozent der Menschen in Deutschland haben bei einer Umfrage erklärt, dass Prävention für sie heute wichtiger ist als noch vor einem Jahr. Und mehr als die Hälfte will in Zukunft mehr für die eigene Gesundheit tun.“ Auch das sei ein Impuls der Pandemie.
Heidrun M. Thaiss zog schließlich ein Fazit, dem alle zustimmten: „Prävention braucht Geduld – und wir brauchen den Mut zum langen Atem.“