Schon nach wenigen Minuten der digitalen Krebs-Convention YES!CON war klar, wie die Antwortet lautet: „Nein!“ Personalisierte Medizin spielt sich nicht in der Zukunft ab, sondern ist längst in der Gegenwart angekommen. „Ich hätte mir die heutigen Möglichkeiten niemals erträumt“, erklärte gleich zu Beginn der Diskussion Markus Tiemann, Facharzt und Mit-Geschäftsführer des Instituts für Hämatopathologie in Hamburg. Viele Krebstherapien können heute sehr exakt auf die jeweiligen Patienten zugeschnitten werden. „Mein Anliegen ist es“, so Tiemann, „dass wir möglichst vielen Menschen den Zugang zu diesen Innovationen gewähren. Das müssen wir in den nächsten fünf Jahren schaffen.“ Er sehe jede Woche ambulante Patienten, die früher eine hochdosierte Chemotherapie bekommen und trotzdem nur eine Überlebenszeit von wenigen Wochen gehabt hätten. Tiemann weiter: „Diese Menschen überleben jetzt zwei, vier, acht und noch mehr Jahre, und das bei akzeptabler Lebensqualität.“
Krebs: Das molekulare Profil
Aber wie genau funktioniert eigentlich personalisierte Medizin? Dazu der Präzisionsonkologe Benedikt Westphalen, Koordinator Molekulare Onkologie am Comprehensive Cancer Center (CCC) in München: „Personalisierte Medizin bedeutet, die Patienten in ihrer Gesamtheit wahrzunehmen. Die Präzisionsonkologie ist ein Teil der personalisierten Medizin: Wir sehen uns einen Tumor nicht mehr nur organbezogen an, sondern auch im Hinblick auf sein molekulares Profil – und schneiden anschließend die Therapie darauf zu.“
Möglich wird das durch Gentests, deren Ablauf die Biologin Katja Janssen von der Roche Pharma AG so beschreibt: „Nach der Krebsdiagnose wird eine Gewebeprobe entnommen, die dann in die Pathologie geschickt wird, zum Beispiel zu Dr. Tiemann. Dort versucht man, aus den Zellen in der Gewebeprobe die DNA zu extrahieren, also zum Kern dieses Tumors vorzudringen.“ Die genetischen Veränderungen in den Tumorzellen, die bei jedem Patienten unterschiedlich sein können, entscheiden dann darüber, welche Therapien wirksam sein könnten und welche nicht. In Deutschland werden solche „Testungen“ inzwischen von den Krankenkassen bezahlt und sind damit für viele Patienten zugänglich.
Benedikt Westphalen verwies jedoch auch darauf, dass die „Testungen“ nicht bei allen Krebsarten in gleichem Maße erfolgversprechend sind: „Beim Lungenkrebs haben wir viele Genmutationen entdeckt, auf denen Therapien basieren können, diese Krebsart dient als Hoffnungsbeispiel. Aber bei vielen anderen Krebsarten gibt es diesen bunten Strauß an Medikamenten nicht.“ Die Präzisionsonkologie sei „kein Allheilmittel“ und habe in den nächsten Jahren noch einen langen Weg vor sich.
Schneller als in der Raumfahrt
Zugleich habe sie aber auch schon einen erstaunlichen Weg zurückgelegt, ergänzte Markus Tiemann: „Auf der Fläche eines Stecknadelkopfes untersuchen die neuen Sequentierer eine Million DNA-Stränge und erkennen, ob es da genetische Veränderungen gibt. Die älteren Geräte, mit denen wir vor zwölf Jahren angefangen haben, bräuchten sechs Jahre, um alle Gene in einer Zelle zu sequenzieren – die neuen Geräte schaffen das in acht Stunden. Die Geschwindigkeit der technologischen Entwicklung ist hier viel schneller als in der Raumfahrt.“ Dadurch entstehe allerdings auch „eine Informationsflut, die man kanalisieren muss. Dafür brauchen wir Datenbanken und den Einsatz von KI“ – also von künstlicher Intelligenz. Beides könne auch dabei helfen „Erkenntnisse aus der Wissenschaft schneller in die Versorgung zu bringen.“
Mit Ulla Ohlms saß eine Krebspatientin auf der Bühne, die noch nach dem Motto „je mehr, desto besser“ behandelt wurde: „Chemo, Bestrahlung, Hormone, brusterhaltende OP – ich hab` alles durchlebt.“ Heute, sagt sie, würde sie mit derselben Diagnose keine Chemotherapie mehr brauchen. In ihrem Bekanntenkreis gibt es eine Lungenkrebspatientin, „die war austherapiert. Dann ist sie gensequenziert worden und es wurde eine Mutation gefunden. Es gab ein Medikament – und sie lebt seit mittlerweile sieben Jahren ohne Krebs.“ Schon wegen dieser Erfahrung empfiehlt Ulla Ohlms allen Krebspatienten, sich genau über die Möglichkeit solcher Tests zu informieren. Und wenn ein Arzt zwischen verschiedenen Therapieoptionen abwäge, sei es immer gut, ihn zu fragen: „Was würden Sie denn Ihrer Frau empfehlen?“
Einig war sich die Diskussionsrunde darüber, dass die Testraten in Deutschland zwar gut seien, aber noch besser sein könnten. „Beim Lungenkrebs liegen wir bei 70 Prozent, da wären 80 oder 90 Prozent besser“, erklärte Markus Tiemann, schränkte allerdings ein: „Man muss auch genau hinsehen, bei welchen Krebsformen sich ein solcher Test lohnt – er lohnt sich da, wo auch Substanzen zur Behandlung zur Verfügung stehen.“ Gehe es dagegen nur um Prognosen, dann wäre keinem Patienten geholfen, wenn er erfahre, dass sein Krebs nicht mehr behandelbar sei. Grundsätzlich gelte aber: „Die Testung beschleunigt die Diagnostik“ – und das könne lebensrettend sein. So ermöglichen die Tests eine schnelle und einfache Diagnose, „die bei bestimmten Leukämieformen früher oft Jahre gedauert hat.“
Ulla Ohlms wünschte sich abschließend, dass die Wissenschaftler „weiter forschen, weitere Mutationen entdecken und Medikamente dazu finden.“ Krebs würde dadurch nicht verschwinden, aber, so ihre Hoffnung: „Die Krankheit könnte chronifiziert werden.“