„Wir haben jedes Jahr 220.000 Krebstote, ohne dass wir uns überhaupt darüber aufregen“, sagt der Onkologe Prof. Michael Hallek. Krebserkrankungen hinterlassen eine – wenn auch kaum so wahrgenommene – Spur der Verwüstung in unserer Gesellschaft. Dabei können wir es uns gar nicht leisten, es zu ignorieren: Rund jeder zweite von uns erkrankt im Laufe seines Lebens an Krebs, einer von vier Bundesbürgern stirbt frühzeitig daran. Es ist eine gewaltige gesellschaftliche und medizinische Herausforderung, für die nur ein Bruchteil unserer Gesundheitsaufwendungen zur Verfügung steht. Von den etwa 6,5 Prozent dieser Aufwendungen, die auf Krebs entfallen, fließt so gut wie nichts in die Prävention und viel zu wenig in die Frühdiagnostik. Das Gros sind Kosten für Behandlung. „Wir sind zu spät dran“, kommentiert Prof. Christof von Kalle vom Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) in Heidelberg die Situation. Und will am besten da eingreifen, wo ein Krebs noch gar nicht entstanden ist.
Vision Zero: „no tolerance“ gegenüber vermeidbaren Krebserkrankungen
Der Verein Vision Zero 2020 setzt genau da an (Pharma Fakten berichtete). „Dahinter steckt als Grundgedanke ein ‚no tolerance‘“, so Hallek. Krebserkrankungen, die nicht notwendig sind, sollen gar nicht erst entstehen. „Wir wollen die Zündung geben für neue Ideen, die das System beschleunigen. Wir wollen den Motor anwerfen, um schneller und entschlossener Fortschritte zu erzielen, weil wir zum Teil zu langsam sind.“ Dazu soll der Hebel überall zugleich ansetzen: beim Lebensstil, bei den Präventionsangeboten, bei der (frühen) Diagnostik, der Therapie, der Ursachenforschung und beim Studienstandort Deutschland.
Für dieses Konzept gibt es Vorbilder. So beschloss man schon vor Jahrzehnten, die Zahl der Straßenverkehrsopfer deutlich reduzieren zu wollen. Eine Erfolgsstory: „Die Zahl der Verkehrstoten ist der niedrigste Stand seit mehr als 60 Jahren“, schrieb das Statistische Bundesamt im Sommer 2020. Es ist das Ergebnis vieler aufeinander abgestimmter Konzepte und Maßnahmen, an deren Anfang eine Vision stand: „Jedes Opfer eines Verkehrsunfalls ist eines zu viel“ (s. Bundesverkehrsministerium).
Diese Erfolgsstory soll sich in der Onkologie wiederholen. Bei Vision Zero nennen sie das „Krebsmedizin 4.0“. Dazu hat sich der Verein zehn Themenfelder auf die Fahnen geschrieben, die schrittweise abgearbeitet werden sollen. Zunächst geht es um diese drei Schwerpunkte:
- Darmkrebs: Dort fordert Vision Zero intelligente und maßgeschneiderte Präventionskonzepte, um die Vorstufen von Darmkrebs zu erkennen, so dass die Krankheit gar nicht erst ausbrechen kann.
- Lungenkrebs: Zum nächstmöglichen Zeitpunkt fordert der Verein die Einführung einer Präventionsabgabe von einem Euro auf jede Schachtel Zigaretten. Damit sollen zusätzliche Präventionsmaßnahmen und Früherkennungskonzepte finanziert werden. Außerdem will Vision Zero ein umgehendes Verbot von Tabakwerbung auch für E-Zigaretten.
- Brustkrebs: Hier müssen intelligente Präventionskonzepte entwickelt und allen Patienten eine molekulargenetische Diagnostik zur Verfügung gestellt werden.
Vermeidung von 40 Prozent der Krebserkrankungen durch Prävention
Nach heutigem Kenntnisstand könnten bis zu 40 Prozent aller Krebserkrankungen durch Prävention vermieden werden. Zählt man die Möglichkeiten von Prävention und Früherkennung zusammen, ließen sich 50 bis 70 Prozent aller Krebstodesfälle vermeiden. 500.000 Menschen erhalten in Deutschland jedes Jahr eine Krebsdiagnose. Mindestens die Hälfte davon müsste das nicht durchmachen, wenn die „Krebsmedizin 4.0“ konsequent umgesetzt würde.
Das Ziel des Symposiums war es denn auch, konsequent nach Hürden zu fahnden, die uns in Deutschland davon abhalten, Krebs zu vermeiden bzw. besser zu bekämpfen. Schnell kam die Diskussion auf die Themen Datennutzung und Digitalisierung. In seinem Statement bekräftigte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn seine Absicht, die Digitalisierung im Gesundheitswesen weiter voranzutreiben. „Der Grundsatz dabei: Daten helfen heilen. Gesundheitsdaten richtig und mit Zustimmung der Bürger genutzt, helfen vielen Patientinnen und Patienten zu einer besseren Versorgung, zu einer besseren Forschung.“ Spahn ist sich sicher: Wenn dieser Mehrwert erkannt wird, werde es auch eine deutlich höhere Akzeptanz geben, die Daten zusammenzuführen und zu nutzen.
Doch es scheint, als digitalisiere sich Deutschland in Bezug auf Gesundheitsdaten noch mit gezogener Handbremse. Andere Länder seien uns beim Erkennen des Potenzials von Daten aus der täglichen klinischen Praxis voraus, erklärte Hagen Pfundner, Vorstand beim Pharmaunternehmen Roche, „denn sie vernetzen diese Daten, um daraus Erkenntnisgewinne zu generieren.“ Das seien „Datenschätze“, doch beim Datenzugang, also der Frage, wer diese Daten nutzen darf, unterscheide man in Deutschland immer noch zwischen öffentlich-rechtlicher und der privaten Forschung – die private Nutzung ist (bisher) nicht vorgesehen. „Das ist in vielen Ländern Europas bereits anders und da wünschen wir uns, dass sich das ändert.“
Der Patient muss in den Mittelpunkt
Auf dem Symposium wurde darüber hinaus eine Lanze gebrochen für eine stärkere Einbindung von Patienten. „Patient Empowerment“ ist dabei zunächst einmal eine Frage von Gesundheitskompetenz: Stehen den Betroffenen die Informationen zur Verfügung, um bei dem Management ihrer Erkrankung unterstützend mitwirken zu können? Dazu wurde im Rahmen des Symposiums ein Workshop mit Expertinnen und Experten der organisierten Patientenvertretung durchgeführt. Die Frage: Was macht ein ideales Patient Empowerment System aus? Aus Sicht der Patientenvertreter ist das beispielsweise eine selbstkritische Kultur der permanenten Verbesserung, eine Sprache, die die Patienten verstehen können, eine nicht-hierarchische, innovationsfördernde Kultur an den Kliniken, die Betrachtung der gesamten Lebenssituation der Patienten bei der Bestimmung der Therapiestrategie oder die Frage der Datensouveränität. Anschließend wurden die Experten gefragt, wie weit diese Ziele im heutigen System umgesetzt werden. Das Ergebnis: Zu 9,4 Prozent. Oder andersherum: Zu 90 Prozent gar nicht.
„Das ist mehr als ernüchternd“, so Peter Albiez, Chef von Pfizer Deutschland. Er sieht durch Vision Zero die Chance, den Blick zu weiten auf das Mögliche: „Niemand muss mehr an Krebs sterben. Das ist die übergeordnete Zielsetzung.“ Albiez fordert deshalb das Primat, „dass keine Entscheidung über Patienten und Betroffene, ohne die Einwirkung von Patienten und Betroffenen erfolgen soll.“ Denn sie spielen für den Therapieerfolg eine wichtige Rolle.
Lernen aus der Pandemie: Geschwindigkeit, Fokus, Lösungsorientierung
Keine solche Veranstaltung ohne den Hinweis auf die aktuelle Covid-19-Pandemie: Dort sei es bisher gelungen mit hoher Geschwindigkeit, gemeinsam schnelle Entscheidungen zu treffen. „Geschwindigkeit, Fokus, Lösungsorientierung, fachlich basiert und das vor allem gemeinsam“, das seien seine „lessons learned“, so Roche-Mann Pfundner. Für ein solches konzertiertes Vorgehen bilde Vision Zero 2020 eine Plattform, um die Krebsversorgung nachhaltig zu verbessern.
Das ist Vision Zero 2020: Die Krebsbekämpfung neu denken, die Möglichkeiten von Vorsorge und Therapie konsequent nutzen, die Hürden abbauen, die ihnen im Wege stehen, die schon bestehenden Konzepte vernetzen. „Packen wir es an. Unsere Patienten können nicht warten“, erklärte der Krebsmediziner Hallek.