Schuld sind Mutationen in einem Gen: Sie führen dazu, dass es Menschen mit Hämophilie an einem bestimmten Eiweiß im Körper fehlt oder mangelt. Bei der Ausprägungsform schwere Hämophilie A betrifft das den sogenannten Gerinnungsfaktor VIII. Unbehandelt verläuft die Blutstillung dadurch verzögert oder gar unvollständig – das kann Lebensgefahr für die Patient:innen bedeuten, wenn zum Beispiel ohne erkennbaren Grund ausgedehnte Blutungen in inneren Organen auftreten.
Hämophilie-Behandlung: Schritt für Schritt mehr Fortschritt
Sie ist eine verheerende Erkrankung – und gleichzeitig ein Paradebeispiel, das zeigt, was der medizinische Fortschritt über die Zeit zu leisten vermag: Trotz erster Behandlungsmöglichkeiten mussten die Patient:innen bis in die 1970er Jahre bei jeder Blutung zu ihren Mediziner:innen oder ins Krankenhaus. Ein normaler Schulbesuch war gerade für Kinder mit einer besonders schwerwiegenden Form der Erkrankung lange Zeit nicht möglich. Ein Durchbruch war die Möglichkeit einer ärztlich kontrollierten „Heim-Selbstbehandlung“: Ab den 1970ern konnten sich die Betroffenen von zuhause aus regelmäßige Spritzen zur Vorbeugung von Blutungen verabreichen. Die Präparate waren damals noch nicht so sicher und gut verfügbar wie heute: Inzwischen können viele Betroffene ein weitgehend normales Leben führen – ihre Behandlung basiert in erster Linie darauf, den fehlenden bzw. mangelnden Gerinnungsfaktor VIII über intravenös verabreichtes, gentechnisch hergestelltes Faktorkonzentrat zu ersetzen. Akute Blutungen können so von vornherein verhindert werden.
Allerdings besteht das Risiko, dass Betroffene Hemmkörper gegenüber den injizierten Faktorkonzentraten entwickeln – die Therapie wirkt dann nicht mehr. Aber auch dafür hat die Pharmaforschung eine Lösung gefunden: 2018 wurde erstmals ein sogenannter bispezifischer Antikörper in Europa zur vorbeugenden Hämophilie-Behandlung zugelassen: Weil er die Funktion des mangelnden Gerinnungsfaktors nachahmt, sich in seinem Aufbau aber davon unterscheidet, ist er für Menschen mit Hemmkörpern geeignet. Inzwischen ist diese Therapie auch für die Prophylaxe bei Patient:innen ohne Hemmkörper zugelassen.
Doch der medizinische Bedarf ist weiterhin groß. Schließlich sprechen nicht immer alle Patient:innen gleichermaßen gut auf verfügbare Therapien an – weitere Optionen werden gebraucht. Die regelmäßig notwendigen Spritzen sind außerdem eine große Belastung im Alltag und eine Herausforderung in Sachen Therapietreue. Und: Vollständig lässt sich das Blutungsrisiko damit nicht beseitigen. Das gilt vor allem für Menschen mit einer schweren Form von Hämophilie: Zwei Drittel von ihnen leiden tagtäglich unter Schmerzen. Der Großteil der Blutungen, die bei ihnen auftreten, sind Gelenkblutungen – sie können auf Dauer zu irreparablen Schäden an Gelenken und Knochen führen.
Durchbruch: Gentherapie bei schwerer Hämophilie
Da kommt die Gentherapie ins Spiel – ein medizinischer Ansatz, der Krankheiten durch Einbringen eines funktionalen Gens behandeln oder verhindern will. Mehrere Kandidaten für Hämophilie A und B sind in den weltweiten Entwicklungspipelines. 2022 hat ein erster Vertreter die Zulassung in Europa erhalten. Basis der Gentherapie ist ein nicht pathogenes, gentechnisch verändertes Virus, das als eine Art Transportmittel fungiert: Es trägt ein funktionelles Gen bis zum Zielort, der Leber, die somit die Anweisung erhält, den Gerinnungsfaktor VIII zu bauen. Dass das funktioniert, ist Ergebnis hochkomplexer Forschung und Entwicklung: „Man musste ein Vektorsystem – das Virus – finden und bearbeiten, damit es sich als Transportmittel eignet. Außerdem galt es, die Gensequenz so zu konstruieren, dass sie in der Leberzelle für eine stabile, anhaltende Produktion des Gerinnungsfaktors in ausreichender Menge sorgt. Nicht zu viel darf es sein, um überschießende Reaktionen etwa in Form von Thrombosen oder Embolien zu vermeiden – aber eben genug, dass Blutungen verhindert werden“, erklärt Dr. Anja Reichert, Senior Medical Director Deutschland und Österreich beim forschenden Pharmaunternehmen BioMarin.
Die Gentherapie ist „ein medizinischer Durchbruch bei der Behandlung von Patienten mit schwerer Hämophilie A, der die Therapieoptionen um eine einmalige Infusion erweitert“, findet der Mediziner Prof. Dr. Johannes Oldenburg, Uniklinikum Bonn. Laut Studiendaten sank der Bedarf an Faktorkonzentraten, es traten zudem weniger oder gar keine Blutungsereignisse auf. „Durch die Gentherapie, die nachweislich zu einer erheblichen und anhaltenden Verringerung der Blutungen führt, ist davon auszugehen, dass die in Frage kommenden Patienten für einige Jahre von der Last regelmäßiger Prophylaxebehandlungen befreit werden können“, so der Arzt Prof. Dr. Wolfgang Miesbach, Uniklinikum Frankfurt am Main. Dr. Reichert, BioMarin, geht davon aus, dass die Gentherapie „einen wesentlichen Stellenwert in der Behandlung einnehmen wird. Denn sie greift an der Wurzel der Erkrankung an. Durch sie kann der Körper den Gerinnungsfaktor selbst produzieren – ein Riesenunterschied zu Therapien, die regelmäßig von außen gegeben werden müssen.“
Pharmaforschung macht keine Pause
Ob sich die Pharmaforschung nun zurücklehnen kann? „Definitiv nicht“, betont Dr. Reichert. „Zum einen untersuchen wir in klinischen Entwicklungsprogrammen intensiv Patientengruppen, die von der Zulassung bislang nicht eingeschlossen sind – wie Patienten mit Hemmkörpern. Zum anderen geht es darum, Gentherapien an sich weiterzuentwickeln und zu optimieren.“ Sie denkt: „Durch kontinuierliche Forschung werden Gentherapien langfristig der Standard in der Hämophilie-Behandlung werden – als ursächliche Therapie, die allen Patientengruppen zur Verfügung steht. Das wird die Zukunft sein.“ Dr. Georg Goldmann, Oberarzt am Hämophiliezentrum in Bonn, skizzierte im Interview mit Pharma Fakten folgende Vision: „In zehn Jahren könnte ich mir vorstellen, dass die Techniken noch ausgereifter sind und Kinder mit einer Hämophilie sofort therapiert werden können. Sie erhalten eine Gentherapie und reden dann nie wieder über diese Krankheit. Das ist natürlich ein langer Weg – aber man muss irgendwann mit einem solchen Weg anfangen.“
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„Gentherapie bei Hämophilie: Viele sagen, sie wollen das unbedingt machen“
Es ist eine atemberaubende Entwicklung: Noch bis in die 1960er-Jahre war eine normale Schulzeit für Menschen, die an der schweren Verlaufsform der Hämophilie litten, kaum möglich. Schwere Einblutungen in Gelenken und Muskulatur führten zu Fehlzeiten und Aufenthalten im Krankenhaus. Manche besuchten Internate, die eigens für Hämophilie-Betroffene eingerichtet wurden. Jahrzehntelang war eine Blutspende von nahen Verwandten oft die einzige Behandlungsoption. Erst Ende der 1960er-Jahre wurde das Leben der Patienten und Patientinnen deutlich einfacher. Denn von da an gab es Gerinnungsfaktorkonzentrate, die ab den 1970er-Jahren nicht mehr von Ärzten und Ärztinnen verabreicht werden mussten, sondern von den Betroffenen selbst gespritzt werden konnten – im Rahmen der sogenannten „ärztlich kontrollierten Heimselbstbehandlung für Bluter“. In den 1990er Jahren kamen erstmals gentechnisch hergestellte Faktorenkonzentrate auf den Markt. Heute gibt es zudem Konzentrate, die für eine stabile Blutgerinnung sorgen und einen so genannten biphasischen Antikörper, der den Gerinnungsfaktor VIII ersetzt und unter die Haut injiziert wird. Und: Es werden Gentherapien entwickelt, von denen sich viele nicht nur eine Kontrolle ihrer Erkrankung, sondern Heilung erhoffen. Wie realistisch diese Hoffnungen sind und was man über die „Bluter-Krankheit“ sonst noch wissen sollte, darüber haben wir mit Dr. Georg Goldmann gesprochen, Oberarzt am Hämophiliezentrum in Bonn.
Wenn die Blutgerinnung gestört ist
Am 17. April ist Welt-Hämophilie-Tag. Patienten mit der Blutungsstörung können heutzutage ein fast normales Leben führen. Doch es besteht Verbesserungsbedarf. Pharmaunternehmen arbeiten daher daran, die bestehenden Therapien zu optimieren und alternative Behandlungsmöglichkeiten zu finden.
Paradigmenwechsel in der Behandlung?
Erste Behandlungsmöglichkeiten für Menschen mit der Blutungsstörung Hämophilie gibt es erst seit den 1960er Jahren. Heute können sie mit den geeigneten Wirkstoffen ein fast normales Leben führen. Aber nur fast. Denn Injektionen sind in der Regel mehrmals wöchentlich notwendig. Nicht zu sprechen von Patienten, bei denen die Therapie nicht so anschlägt, wie sie soll. Die Pharmaindustrie arbeitet daher an vielen neuen Ansätzen – die die Behandlung der Erkrankten grundlegend verändern könnten.