Medizinischer Fortschritt „Made in Germany“: Gewollt  ermöglicht und erreichbar? Über diese Frage diskutierten beim Hauptstadtkongress eine Professorin für Immunonkologie  ein Vorstandsmitglied von Bayer und der CEO von CureVac. Foto: ©WISO/Susanne Schmidt-Dominé
Medizinischer Fortschritt „Made in Germany“: Gewollt ermöglicht und erreichbar? Über diese Frage diskutierten beim Hauptstadtkongress eine Professorin für Immunonkologie ein Vorstandsmitglied von Bayer und der CEO von CureVac. Foto: ©WISO/Susanne Schmidt-Dominé

Medizinischer Fortschritt in Deutschland: Mehr Mut zum Risiko

Wird der Medizinische Fortschritt in Deutschland gesellschaftlich und politisch eher unterstützt oder gebremst? Auf diese Frage gibt es keine einfachen Antworten. Aber: Es gibt Hoffnung - wie die Diskussion von drei ausgewiesenen Expert:innen auf dem Hauptstadtkongress Medizin und Gesundheit (HSK) 2021 zeigte.

Die gute Nachricht zuerst: In keinem anderen Land in Europa erreicht der medizinische Fortschritt die Menschen so schnell wie in Deutschland. Wie eine aktuelle Analyse des europäischen Pharmaverbands EFPIA zeigt, erhalten Patient:innen ein neues Medikament im Median bereits 50 Tage nach der Zulassung – in Frankreich dagegen vergehen 474 Tage. Warum es derartige Unterschiede gibt, erklärte in der digitalen Diskussionsrunde Stefan Oelrich, Mitglied des Vorstands und Leiter der Division Pharmaceuticals der Bayer AG in Berlin: „In vielen anderen Ländern folgen langwierige Erstattungsverhandlungen auf die Zulassung, in Deutschland dagegen wird sofort der Zugang geschaffen – und erst dann kommen die Verhandlungen zur Erstattung.“

Stefan Oelrich, Vorstandsmitglied Bayer. Foto: ©Bayer AG
Stefan Oelrich, Vorstandsmitglied Bayer. Foto: ©Bayer AG

Dasselbe Prinzip beherzigte Dr. Franz-Werner Haas, als er sich mit seinem Team bei CureVac daran machte, einen Corona-Impfstoff zu entwickeln: „Wir haben zuerst geschaut, was wir machen wollen, und dann einen Weg gesucht, dieses Ziel zu erreichen.“ Wenn Wissenschaftler:innen dagegen erst forschen würden, wenn alle Verträge abgeschlossen sind, dann könne es passieren, „dass man über die Vertragsverhandlungen nicht hinauskommt.“ Anders gesagt: „Innovation muss immer mit Risikobereitschaft einhergehen“, so Haas. „Offenheit für Wissenschaft bedeutet, keine Angst vor dem Scheitern zu haben.“ Klingt gut, schafft in Deutschland aber Probleme, sobald es darum geht, gefördert zu werden – sei es politisch, gesellschaftlich oder finanziell.

Politisch ist die Lage eigentlich gar nicht so schlecht. „Wir finden in der Politik Gehör“, sagte Prof. Dr. Dr. Ulrike Köhl, Direktorin des Instituts für Klinische Immunologie in Leipzig und Leiterin des dort ansässigen Fraunhofer-Instituts für Zelltherapie und Immunologie. Wie ihre beiden Gesprächspartner hat die Forscherin in den vergangenen Monaten viele Gespräche mit politischen Entscheidern geführt und alle haben dabei festgestellt: Die Pandemie hat das Ansehen der Wissenschaft verbessert. „Ich habe noch nie so ein großes Interesse erlebt“, ergänzte Stefan Oelrich, „es wird durchaus gesehen, dass wir nicht nur helfen, die Krise zu meistern, sondern auch einen Wertschöpfungsbeitrag leisten.“

Forschung fördern: Weniger Regularien, mehr Venture Capital

Das allein reicht aber nicht. „Es muss auch etwas passieren“, so Ulrike Köhl, „wir brauchen neue und unbürokratische Rahmenbedingungen.“ Dies betreffe insbesondere die komplexen Regularien, aber auch „Venture Capital“, also die staatliche oder private Förderung durch Risikokapital. „Alleine in Boston werben die großen Krankenhäuser so viele Drittmittel ein, wie bei uns in Deutschland alle universitären Einrichtungen zusammen“, so Stefan Oelrich. Und allein das für Forschung zuständige NIH (National Institutes of Health) in den USA „fördert in einer Größenordnung, die das gesamte Budget des Bundesforschungsministeriums übersteigt. Dort wird gezielt in Lebenswissenschaften investiert, wie wir das bei uns nicht kennen – da müssen wir aufpassen, nicht ins Hintertreffen zu geraten.“

Ulrike Köhl merkte an, dass es in Deutschland durchaus Fördertöpfe für die akademische Forschung gebe, aber: „Der Aufwand, Anträge für eine Förderung zu schreiben, ist deutlich größer geworden.“ Allerdings sieht Köhl auch „Licht am Horizont“: So habe die Politik erste Partnerschaften zwischen Industrie und universitären Einrichtungen ausgeschrieben. Solche Partnerschaften seien entscheidend für medizinischen Fortschritt „Made in Germany“. Kooperationen und Vernetzung müsse es nicht nur zwischen industrieller und akademischer Forschung geben, sondern auch in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen. So gebe es in Deutschland hervorragendes Ingenieurswissen, das nicht nur in der Autoindustrie eingesetzt werden könne, sondern auch in den Bereichen „Künstliche Intelligenz“ oder „Robotik“, die beide in der Medizin der Zukunft eine wichtige Rolle spielen.

Lokal oder international?

Foto: ©WISO/Susanne Schmidt-Dominé
Foto: ©WISO/Susanne Schmidt-Dominé

„Brauchen wir in Deutschland mehr lokale Produktion?“, wollte Moderatorin Yve Fehring wissen, die sonst für ZDF und 3sat arbeitet. Hier plädierte Oelrich dafür, in Deutschland nicht in alte Chemieanlagen zu investieren, die es in Indien und China schon gebe, sondern in neue Zelltechnologien und andere komplexe Innovationen, die Wertschöpfung ermöglichen. Ebenso wie Oelrich setzt auch Franz-Werner Haas auf internationale Zusammenarbeit. „Die lokale Verfügbarkeit von Materialien sollte sichergestellt sein“, räumte er ein, aber es sei nicht sinnvoll, dass jedes Land nun seine eigenen Produktionsstätten aufbaue. „Man sollte an einer Stelle möglichst viele Dosen produzieren, die dann weltweit verteilt werden“, so Haas. Das sei schon aus Eigennutz wichtig, denn es gebe inzwischen 29 Varianten des Corona-Virus. Dem pflichtete Stefan Oelrich mit deutlichen Worten bei: „Wir produzieren keine Schokoladenbonbons, sondern Impfstoffe mit biotechnologischem Hintergrund. Trotzdem wurde auf dem G7-Gipfel darüber diskutiert, dass die Schwellen- und Entwicklungsländer alle eigene Produktionsstätten bekommen sollten. Das ist doch Wahnsinn. Wir würden dann überall Industrieruinen bauen – ich plädiere sehr für eine Rückkehr zur Vernunft.“ Weltweite Lieferketten und globale Handelsströme hätten die Welt sicherer und wohlhabender gemacht. Was die Welt und auch Deutschland brauchen, das seien multilaterale Verträge und Sicherheitsreserven für Krisenzeiten.

Blick in die Zukunft

Zur abschließenden Frage, wo die Medizin in zehn Jahren stehen werde, gab es durchaus unterschiedliche Blickwinkel: „Patienten in ländlichen Regionen können digitale Formate in Anspruch nehmen“, zeigte sich Ulrike Köhl überzeugt. Franz-Werner Haas geht davon aus, dass es „gerade im Krebsbereich sehr individualisierte Therapien geben wird. Außerdem werden wir besser auf Pandemien vorbereitet sein und es wird mehr wissensbasierte als rein produktionsbasierte Unternehmen geben.“ Stefan Oelrich denkt, dass sich das Wissen darüber, wie biologische Prozesse funktionieren „explosionsartig vermehren wird“ und dass es „neue Heilungsansätze und Wertschöpfungsketten gibt, die auf diesem Wissen basieren.“

„Das Potenzial für medizinischen Fortschritt Made in Germany ist groß“, fasste Yve Fehring zusammen, „aber es muss noch intensiver genutzt werden. Dazu braucht es viele kluge Köpfe, eine internationale Vernetzung von Wissenschaft und Wirtschaft, Unterstützung durch Politik und Gesellschaft – und etwas mehr Mut zum Risiko.“

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