AMNOG – das Bermuda-Dreieck der Arzneimittelversorgung

Gesundheitsökonom Professor Dieter Cassel von der Universität Duisburg-Essen begleitet das AMNOG von Anfang an. Im Interview mit Pharma Fakten zieht er Bilanz und entwickelt konkrete Reformvorschläge.

Herr Prof. Cassel, fünf Jahre AMNOG. Wie fällt Ihre Bilanz aus?

Prof. Dieter Cassel: Gemischt: Einerseits ist die Idee einer nutzenorientierten Preisfindung bei neuen Arzneimitteln gesundheitsökonomisch zu begrüßen, andererseits lässt ihre konkrete Umsetzung zu wünschen übrig. Der Gesetzgeber hat zum Beispiel die Nutzenbewertung und Preisverhandlung weder hinreichend noch sachgerecht geregelt. Damit hat er zugelassen, dass ein durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) und den GKV-Spitzenverband (GKV-SV) verkörpertes Übergewicht der Nachfrageseite entstanden ist und in allen Phasen des AMNOG-Prozesses, vor allem aber bei der Preisfindung, auch ausgespielt wird.

Sie sprechen vom „Bermuda-Dreieck“ in der GKV-Arzneimittelversorgung. Was meinen Sie damit?

Prof. Cassel: Damit sind die negativen Folgen dieser verfehlten Regelungsstruktur für die Versorgung der Patienten mit Arzneimittel-Innovationen gemeint. Denn die Hersteller reagieren naturgemäß sensibel, wenn ihre wirtschaftlichen Interessen in unangemessener Weise tangiert sind. So haben sie in den fünf Jahren vor dem AMNOG noch 95 Prozent ihrer international zugelassenen Präparate in Deutschland eingeführt, seit 2011 aber nur noch 77 Prozent. Und sie haben fast jedes fünfte bereits eingeführte Medikament als Reaktion auf enttäuschende Nutzenbewertungen und unakzeptable Erstattungsbeträge am unteren Ende der europäischen Preisskala wieder vom Markt genommen. Zu allem Überfluss werden dann die verbliebenen AMNOG-Präparate auch noch zögerlich verordnet.

Dadurch werden doch dem Patienten Innovationen vorenthalten, was G-BA und GKV-SV aber ganz anders sehen – es gäbe ja genug Alternativen. Ist das so?

Prof. Cassel: Gewiss, in den großen Therapiegebieten gibt es auf dem Papier meist mehrere gleichwertige Wirkstoffe. Häufig sind sie auch problemlos austauschbar. Dennoch fordern Ärzte und Pharmakologen eine möglichst große Therapievielfalt als Wert an sich, weil zum Beispiel nicht jeder Patient auf jeden Wirkstoff gleich anspricht oder immer wieder Resistenzen bei einzelnen Präparaten auftreten – von möglichen Versorgungsengpässen ganz abgesehen. Therapievielfalt und Versorgungssicherheit nehmen aber ab, wenn hierzulande vergleichsweise immer weniger Präparate ausgeboten werden und von den ausgebotenen ein immer größerer Teil wieder vom Markt verschwindet.

Geht es nicht konkreter? Wo haben denn die Marktreaktionen zu einer kritischen Versorgungslage geführt?

Prof. Cassel: Dazu zwei Beispiele: Allein fünf der bisher vom Markt genommenen 19 Medikamente sind Antidiabetika zur Behandlung von Diabetes Mellitus Typ 2. Darunter sind orale Antidiabetika, aber auch Produkte mit neuem Wirkprinzip und neuer Galenik. Hätte man den Marktaustritt bei Forxiga® mit dem Wirkstoff Dapagliflozin nicht im letzten Moment durch gütliche Einigung über den Erstattungsbetrag verhindert, stünde heute eine ganze Substanzklasse nicht mehr zur Verfügung. Und bei Epilepsiepräparaten spricht der Vorsitzende der zuständigen Fachgesellschaft offen davon, dass der G-BA durch seine Bewertungspraxis Marktaustritte provoziere und dadurch vielen Patienten zurzeit den Zugang zu den individuell besten Therapien verwehre, was er wörtlich als „fast zynisches Vorgehen“ bezeichnet.

Aber über fast die Hälfte der Produkte senkt sich doch der Daumen des G-BA: „Kein Zusatznutzen“! Liegt das an der mangelnden Innovationskraft der Hersteller oder am Bewertungsverfahren?

Prof. Cassel: Wenn alljährlich eine tendenziell steigende Zahl von Produkten als wirksam bzw. mit einer positiven Nutzen-Risiko-Relation international zugelassen wird und die Produktpipelines – wie es den Anschein hat – gut gefüllt sind, kann es um die Innovationsfähigkeit der Pharmaindustrie nicht so schlecht bestellt sein. Welchen Zusatznutzen die einzelnen Innovationen gegenüber therapeutisch bewährten Bestandspräparaten haben, ist und bleibt dann eine von vielen Imponderabilien abhängige Bewertungsfrage. Sie ist umso schwerer zu beantworten, je weniger therapeutische Erfahrung mit einem Präparat vorliegt – wie dies bei der AMNOG-Bewertung im ersten Halbjahr nach dem Launch der Fall ist.

Was man aber unbedingt wissen muss: Bislang sind 90 Prozent der Wirkstoffe, denen der G-BA keinen Zusatznutzen testiert hat, gar nicht erst bewertet worden; sie sind vielmehr wegen formaler Mängel – wie fehlende Dossiers oder Daten, abweichende Vergleichstherapien oder unvollständige Nachweise – so kategorisiert worden. Falsch negative Nutzenbewertungen sind dabei also nicht ausgeschlossen.

Das AMNOG vergibt ja praktisch eine TÜV-Plakette, die neuen Präparaten im Erfolgsfall Zusatznutzen und Wirtschaftlichkeit testiert und damit Transparenz und Sicherheit bei Ärzten und Patienten schaffen soll.

Prof. Cassel: Wenn das mal so einfach wäre! Die Frühe Nutzenbewertung hat methodisch und praktisch jede Menge Haken und Ösen – Stichworte: Endpunkte, Evidenz, Kategorisierung. Dazu ist sie als Grundlage der nachfolgenden Preisfindung in hohem Maße strategieanfällig – etwa bei der Auswahl generischer Vergleichstherapien. Die Ärzte können in der Praxis noch zu wenig mit der subtilen Bewertung des Zusatznutzens und seiner Einteilung in fünf Kategorien beim Ausmaß und drei Stufen bei der Wahrscheinlichkeit anfangen. Hinzu kommt noch die Stratifizierung der Patienten beziehungsweise das Slicing der Präparate durch den G-BA, die bisher zu durchschnittlich zwei und maximal neun meist unterschiedlich bewerteten Subgruppen geführt haben. In diesen Fällen sind auch noch Erstattungsbeträge als Mischpreise zu vereinbaren, die das Zeug zur Verordnungshürde haben.

Wie können Preise eine Verordnungshürde sein?

Prof. Cassel: Mischpreise werden üblicherweise als gemittelter Erstattungsbetrag über alle Subgruppen und somit für die gesamte Zielpopulation eines Wirkstoffs gebildet. Aus der Perspektive der nutzenorientierten Preisfindung erscheint dann der Erstattungsbetrag für Subpopulationen ohne Zusatznutzen als zu hoch und bei solchen mit Zusatznutzen als zu niedrig. Ärzte- und Kassenverbände halten deshalb die Verordnung im ersten Fall für unwirtschaftlich und drohen den Ärzten mit Wirtschaftlichkeitsprüfungen und Regressen. Inzwischen hat sich diese Verordnungshürde regional sogar schon in korporativen Vereinbarungen manifestiert. Dadurch wird jedoch die Logik der Mischpreisbildung unterlaufen, vor allem aber wird die Ärzteschaft verunsichert. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund fließender therapeutischer Übergänge zwischen den Gruppen halten sich die Ärzte verständlicherweise mit Verordnungen selbst dann zurück, wenn die Patienten einen hohen Zusatznutzen hätten. Nur so erklärt sich, warum Präparate mit beträchtlichem Zusatznutzen auch nach drei Jahren immer noch bei 80 bis 95 Prozent der jeweiligen Zielpopulation nicht verordnet werden.

Sie sehen also durchaus Handlungsbedarf. Hätten Sie drei Wünsche frei, was wären dann ihre drei wichtigsten Forderungen an den Gesetzgeber?

Prof. Cassel: Erstens: Die Frühe Nutzenbewertung müsste einem neutralen Expertengremium („A-BA – Arzneimittel-Bewertungsausschuss“) übertragen werden, um Nutzenbewertung und Preisfindung institutionell klar zu trennen. Zweitens: Für neue Arzneimittel mit Zusatznutzen müsste der Erstattungsbetrag – wie anfangs gesetzlich vorgesehen – als Rabatt auf den Herstellerabgabepreis verhandelt werden („Top-down-Verfahren“), um Entwicklungskosten einzubeziehen und Erstattungsbeträge auf Generikaniveau zu verhindern. Und drittens: Es müsste gesetzlich klargestellt werden, dass Mischpreise eines Präparats bei Subgruppen mit und ohne Zusatznutzen als wirtschaftlich gelten, damit sie nicht mehr unterlaufen werden können und Arzneimittel-Innovationen rascher beim Patienten ankommen.

Und was passiert, wenn nichts passiert?

Prof. Cassel: Das AMNOG würde sich dann als Verfügbarkeits- und Verordnungshürde etablieren. Die Hersteller hätten allenfalls entgangene Erlöse zu verkraften, aber die Patienten litten unter vermeidbaren Schäden in Form geringerer Lebensqualität, leidvoller Krankheit oder vorzeitigem Tod. Doch wer will das riskieren?

Verwandte Nachrichten

Anmeldung: Abo des Pharma Fakten-Newsletters

Ich möchte per E-Mail News von Pharma Fakten erhalten: