Ab 2025 sollen die bislang nationalen Nutzenbewertungen von Gesundheitstechnologien wie Arzneimitteln europaweit harmonisiert ablaufen. Ob das gut funktionieren wird? Das hängt von der konkreten Umsetzung ab. Foto: ©iStock.com/Ca-ssis
Ab 2025 sollen die bislang nationalen Nutzenbewertungen von Gesundheitstechnologien wie Arzneimitteln europaweit harmonisiert ablaufen. Ob das gut funktionieren wird? Das hängt von der konkreten Umsetzung ab. Foto: ©iStock.com/Ca-ssis

Europäische Arzneimittel-Nutzenbewertung: Luft nach oben

Ab 2025 sollen die bislang nationalen Nutzenbewertungen von Gesundheitstechnologien europaweit harmonisiert ablaufen. Bis dahin müssen die Prozesse ausgestaltet sein: Doch die pharmazeutische Industrie sieht bei den bisherigen Plänen der EU-Kommission „Luft nach oben“. Das Thema ist nicht nur was für Fachleute: Schließlich geht es darum, die Verfügbarkeit von neuen Therapien für die Patient:innen zu verbessern und den Innovationsstandort Europa zu stärken.
Europäische Arzneimittel-Nutzenbewertung
Im Jahr 2023 empfahl die EMA die Zulassung für 77 Arzneimittel. Foto: ©iStock.com/Vladimir Borovic

Im Jahr 2023 empfahl die Europäische Arzneimittelbehörde EMA die Zulassung für 77 Arzneimittel: Auf dieser Basis kann die EU-Kommission ihr grünes Licht geben – die Voraussetzung dafür, dass neue Medikamente und Impfstoffe in die Versorgung der Mitgliedsstaaten kommen dürfen. In nationalen Verfahren werden sie dann auf ihren (Zusatz-)Nutzen bewertet: „Dieser multidisziplinäre Prozess beinhaltet die Überprüfung medizinischer, ökonomischer, organisatorischer, sozialer und ethischer Faktoren, die mit der Anwendung der Medikamente in den Gesundheitssystemen im Zusammenhang stehen“, erklärt das Unternehmen Bristol Myers Squibb (BMS). Das Ganze ist sehr umfangreich – und führt europaweit gesehen zu viel unnötiger und langwieriger Doppelarbeit. Letztlich schwächt das nicht nur die Wettbewerbsfähigkeit Europas, sondern verzögert auch den Zugang der Patient:innen zu Innovationen (s. Pharma Fakten).

Die EU-Kommission arbeitet deshalb daran, all die unterschiedlichen nationalen Verfahren zusammenzuführen und zu harmonisieren. Ab Januar 2025 gilt dies im ersten Schritt für Arzneimittel für neuartige Therapien (ATMPs) und Onkologika, ab 2028 folgen Orphan Drugs und ab 2030 alle anderen Medikamente. Die gemeinsame Bewertung der klinischen Studienlage soll unter anderem verhindern, dass forschende Pharmafirmen unterschiedliche Evidenzanforderungen aus den einzelnen Ländern erhalten. Die Unternehmen reichen Dossiers mit den klinischen Daten zu ihren Arzneimitteln für die gesamte EU ein. Bei Bedarf sind trotzdem ergänzende klinische Bewertungen auf nationaler Ebene möglich – genauso bleiben ökonomische, soziale und ethische Themen, die tatsächliche Entscheidung über den Zusatznutzen sowie Preisverhandlungen mit den pharmazeutischen Firmen in den Händen der Staaten.

EU-HTA: „Auf der Zielgeraden“

vfa-Präsident Han Steutel
vfa-Präsident Han Steutel. Foto: © vfa / B. Brundert

„Bis Dezember 2024 muss der europäische Verfahrensablauf und Bewertungsrahmen durch die Mitgliedsstaaten und die EU-Kommission konkret festgelegt werden“, so der Verband der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa). „Zusätzlich müssen die nationalen Verfahren angepasst werden“. Es ist also noch viel zu tun. Von der EU-Kommission gibt es bereits einen Entwurf für eine „Durchführungsverordnung“. Sie enthält quasi die Verfahrensregeln.

Der vfa hält dies für einen „Meilenstein“ und hat dazu eine Stellungnahme veröffentlicht. Die Pläne der Politik bleiben in seinen Augen „hinter den Erwartungen der forschenden Pharmaunternehmen an die Etablierung eines vorhersehbaren, praktikablen und effizienten Verfahrens auf EU-Ebene zurück“, heißt es. vfa-Präsident Han Steutel kritisiert: „Ein Bewertungsprozess, der die betroffenen Unternehmen nicht einbezieht und überfordert, beeinträchtigt am Ende die Qualität der Bewertung. Und das wiederum wäre eine Gefahr für die Nutzbarkeit der EU-Bewertung in Deutschland.“ Die „Hersteller sollten angemessen am EU-HTA-Prozess beteiligt werden – insbesondere bei der Bestimmung des Bewertungsumfanges (Scoping)“, so die Forderung. Nur so könne „aus der guten Idee der europäischen Nutzenbewertung eine gelebte Praxis in den Mitgliedsstaaten werden“, meint Steutel. Auch das forschende Pharmaunternehmen BMS findet: „Die Industrie sollte im Zentrum des Prozesses stehen, der Methodologie, Evidenzerfassung und Verfahrensabläufe definiert“.

Laut Steutel brauchen die Firmen vor allem „ausreichend Zeit für die Dossiererstellung.“ Der geplante Zeitrahmen für die Vorbereitung müsse verlängert werden, so der vfa. „Dies fördert die Praktikabilität des Prozesses und die Qualität des Dossiers sowie der Bewertung.“ Außerdem sieht Steutel den mangelnden Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen in der europäischen Nutzenbewertung mit Sorge. Schließlich sind sie Grundlage des Geschäftsmodells der Industrie. Bleibe der Entwurf der Durchführungsverordnung unverändert, würden die bisherigen hohen deutschen Schutzstandards abgesenkt. Der vfa-Präsident baut daher auf die politische Unterstützung des Bundesgesundheitsministeriums.

Medizinischer Fortschritt braucht Zusammenarbeit

Medizinischer Fortschritt braucht Zusammenarbeit
Was bringt der medizinische Fortschritt, wenn er nicht bei den Patient:innen ankommt? Foto: ©iStock.com/Ca-ssis

„In einer Welt schnelllebiger Wissenschaft ist kein Platz für Silos. Politische Entscheidungsträger:innen – in Zusammenarbeit mit anderen Akteur:innen des Ökosystems – müssen einen Bewertungsrahmen schaffen, der sich schnell an aufbrandende Wellen wissenschaftlicher Innovation anpasst“, sagt BMS. Gen- und Zelltherapien, personalisierte Medizin, digitale Technologien, Künstliche Intelligenz, neue Formen klinischer Studiendesigns: All diese Entwicklungen stellen klassische Methoden der Bewertung vor Herausforderungen. Verstärkte Zusammenarbeit auf EU-Ebene ist daher nur logisch: Denn was bringt der medizinische Fortschritt, wenn er nicht oder zu langsam bei den Patient:innen ankommt?

Menschen in Malta warten im Schnitt 1.351 Tage, also fast 4 Jahre, bis ein neu zugelassenes Arzneimittel für sie verfügbar wird. In Deutschland sind es 128 Tage – die Daten stammen aus einer Untersuchung des Pharmaverbands EFPIA aus 2022 (s. Pharma Fakten). Die Ursachen für diese Unterschiede sind komplex und multifaktoriell. Eine europäische Nutzenbewertung kann ein Teil der Lösung sein – wenn sie hilft, Doppelarbeiten zu vermeiden und Ressourcen einzusparen, sowohl seitens der Länder als auch seitens der Unternehmen. Ob das gelingt? Es kommt auf die konkrete Umsetzung an – der vfa sieht mit Blick auf die geplante Durchführungsverordnung noch „Luft nach oben“.

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