Die Idee hinter einem EU-HTA: die bislang nationalen Nutzenbewertungen von neuen Arzneimitteln und Medizinprodukten auf europäischer Ebene zu harmonisieren. Foto: ©iStock.com/artJazz
Die Idee hinter einem EU-HTA: die bislang nationalen Nutzenbewertungen von neuen Arzneimitteln und Medizinprodukten auf europäischer Ebene zu harmonisieren. Foto: ©iStock.com/artJazz

Medizinische Bewertung von Arzneimitteln über Ländergrenzen hinweg

„Ich bin überzeugt, dass Wissenschaft nicht zu unterschiedlichen Ergebnissen in Madrid, Warschau oder Kopenhagen führen sollte“, erklärte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn 2019 gegenüber der Zeitschrift Politico. Letztlich ist es dieser Gedanke, der hinter der Idee steht, die bislang nationalen Nutzenbewertungen von neuen Arzneimitteln und Medizinprodukten auf europäischer Ebene zu harmonisieren. Auch der Verband der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa) hält eine vertiefte Zusammenarbeit in der EU für sinnvoll – schließlich profitieren Menschen in Spanien nicht anders von einem Medikament als Menschen in Deutschland. Nun kommt nach langen Verhandlungen Bewegung in ein sogenanntes EU-HTA.

Health Technology Assessment“ (HTA): Das klingt nicht nach etwas, wofür sich alle Bürger:innen dieses Landes unbedingt interessieren müssten – eher nach etwas für Fachleute. Doch die Wahrheit ist: Es ist ein Thema, das direkt Auswirkungen auf die Gesundheitsversorgung der Menschen hat.

Aber von vorn: Mehrere Länder in Europa haben in den vergangenen Jahren nationale Verfahren zur Bewertung von Gesundheitstechnologien (HTA) eingeführt. Deutschland ist vor allem für seinen sogenannten AMNOG-Prozess bekannt. Darin bewertet das oberste Selbstverwaltungsgremium – der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) – den „Zusatznutzen neuer Arzneimittel gegenüber einer herkömmlichen Therapie umgehend nach ihrer Einführung“, erklärt der Pharmaverband vfa. Das Ergebnis davon bildet die Grundlage für die Preisverhandlungen zwischen dem Spitzenverband der Krankenkassen (GKV-SV) und den Arzneimittelherstellern.

Gemeinsame EU-HTA? - In Diskussion bei dem HSK 2021. 
Foto: ©Pharma Fakten
Gemeinsame EU-HTA? – In Diskussion bei dem HSK 2021.
Foto: ©Pharma Fakten

Aber auch andere EU-Länder führen im Rahmen ihrer eigenen HTA Nutzenbewertungen durch. Ob das Sinn macht? Die EU-Kommission jedenfalls arbeitet daran, all die unterschiedlichen nationalen Verfahren zusammenzuführen und zu harmonisieren. Krankheiten kennen schließlich keine Ländergrenzen. In diesem Sinne kann ein gemeinsames EU-HTA Doppelarbeit – sowohl bei Pharmafirmen als auch in den einzelnen Mitgliedsstaaten – vermeiden und dadurch finanzielle sowie personelle Ressourcen schonen; die Hoffnung ist, dass Patient:innen in ganz Europa schneller von innovativen Gesundheitstechnologien bzw. Therapien profitieren können.

Grünes Licht für ein EU-HTA

Nun geht es – drei Jahre nach dem Vorschlag der EU-Kommission für ein EU-HTA – voran: Am 22. Juni 2021 einigten sich das EU-Parlament und der Europäische Rat auf ein Kompromisspapier, wie in der Ärzte Zeitung zu lesen ist. Dem war ein langes Ringen vorausgegangen: Auf dem Hauptstadtkongress Medizin und Gesundheit (HSK) hatte Ortwin Schulte – u.a. Leiter des Referats Gesundheit in der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der Europäischen Union, Brüssel/Belgien – Einblicke in die intensiven Verhandlungen gegeben. So berichtete er etwa von einer „erkennbaren Spannungslinie zwischen größeren Mitgliedsstaaten, die in aller Regel ein ausgefeiltes HTA-System haben, und kleineren Mitgliedsstaaten“. Letztere könnten von einem EU-System profitieren, ohne Sorge haben zu müssen, nationale Kompetenzen abgeben zu müssen. Überhaupt ging es in den Diskussionen viel um die Fragen: Was genau wird künftig auf europäischer Ebene geregelt – was verbleibt in nationaler Hand? Wie rechtsverbindlich ist die europäische Nutzenbewertung für die einzelnen Staaten?

Deutschland: Besonders schneller Zugang zu Arzneimittelinnovationen

Gerade für Deutschland spielen diese Fragen eine große Rolle: Schließlich hat es mit dem AMNOG ein System geschaffen, für das es international große Anerkennung erhält (s. Pharma Fakten). Und: Nirgendwo in Europa haben die Patient:innen so schnell wie hier Zugang zu Arzneimittelinnovationen (s. Pharma Fakten). In der Bundesrepublik steht den Menschen ein neues Medikament im Median bereits 50 Tage nach der Zulassung zur Verfügung – in Rumänien sind es hingegen 859 Tage. Übersetzt heißt das: Während andernorts noch über die Erstattung verhandelt wird, kommen neue Medikamente hierzulande oftmals schon längst am Krankenbett zum Einsatz.

Mit dieser Position kommt Deutschland – global gesehen – eine große Verantwortung zu, betonte jüngst Han Steutel vom vfa. Der Pharmaverband hatte von Anfang an die Entwicklung eines EU-HTA begrüßt. Schon 2018 schrieb er, dass das „ein klares Signal für Patienten überall in Europa“ sei. Auf dem HSK betonte Steutel gleichzeitig, dass man ein Interesse daran habe, dass Deutschland seine gute Position behält.

Han Steutel, vfa. Foto: ©vfa / B. Brundert
Han Steutel, vfa. Foto: ©vfa / B. Brundert

Den erzielten Kompromiss von EU-Parlament und Rat bezeichnete der vfa gegenüber der Ärzte Zeitung als „großen Schritt in die richtige Richtung“. Laut dem Kompromisspapier soll die klinische Bewertung eines neuen Arzneimittels künftig gemeinsam auf europäischer Ebene stattfinden – mit dem Ziel, dass Menschen in ganz Europa schneller Zugang zu Innovationen haben. Dazu entsenden Mitgliedsstaaten Vertreter:innen in einen Koordinierungsausschuss (Member State Coordination Group). „Ihre Ergebnisse beschreiben nur die vorgelegte Evidenz“, so die Ärzte Zeitung. Die Entscheidung über den Zusatznutzen und die Preisfindung „bleibt ausschließlich Sache der HTA-Agenturen in den Mitgliedsstaaten“. Das heißt konkret: Auf Basis der europäischen Bewertung kann der G-BA eigenständig für Deutschland einen Beschluss über den konkreten Zusatznutzen fassen – der GKV-SV ist weiterhin für die nachgelagerten, nationalen Preisverhandlungen mit den Herstellerfirmen verantwortlich.

Auf dem HSK hatte Steutel eine Verbindlichkeit des Verfahrens gefordert. Die europäisch durchgeführte Bewertung muss zuverlässig als Grundlage für die nationale Entscheidung über den Zusatznutzen eines Arzneimittels angenommen werden. Denn schließlich soll ein EU-HTA verhindern, dass jedes Land unterschiedliche Daten- und Evidenzanforderungen an die forschenden Pharmafirmen stellt. Vor dem Hintergrund des nun gefundenen Kompromisses erklärte Tiemo Wölken, Berichterstatter und SPD-Abgeordneter im EU-Parlament: „Das EU-Parlament hat in den Verhandlungen dafür gesorgt, dass die Ergebnisse der gemeinsamen Bewertungen in den Mitgliedsstaaten nicht ignoriert werden können“. Und: Um Doppelarbeit zu vermeiden, sollen die Pharmaunternehmen künftig die für die Bewertung notwendigen Daten und Studien nur noch einmal auf eine digitale europäische Plattform einspeisen müssen. 

Coronapandemie: Europäisches Handeln

Was erreicht werden kann, wenn alle – sowohl weltweit als auch auf europäischer Ebene – an einem Strang ziehen, zeigt die Coronapandemie gerade in Echtzeit. Im Rekordtempo wurden Impfstoffe und Arzneimittel entwickelt, zugelassen, verfügbar gemacht. Womöglich haben die Lehren aus dieser Krise dem EU-HTA neuen Anschwung gegeben, sodass jetzt ein Kompromiss erzielt werden konnte. Er muss nun nur noch in Parlament und Rat formell bestätigt werden.

HTA: Direkte Auswirkungen auf die Gesundheitsversorgung der Menschen. Foto: ©iStock.com/ismagilov
HTA: Direkte Auswirkungen auf die Gesundheitsversorgung der Menschen. Foto: ©iStock.com/ismagilov

Passenderweise hatte Ärzte Zeitung-Redakteur Dr. Florian Staeck auf dem HSK den niederländischen Philosophen und Historiker Luuk van Middelaar zitiert: Demnach entwickele sich die EU zunehmend „zu einem politischen Akteur mit eigenen Werkzeugen.“ Staeck verwies auf die gemeinsame COVID-19-Impfstoffbeschaffung. Ein Ereignis wie die Pandemie zwinge laut van Middelaar die Union dazu, eine Form anzunehmen, die sie bisher nicht hatte.

Die Zukunft wird zeigen, inwiefern das nachhaltige Auswirkungen auf den Gesundheitssektor haben wird. Klar ist: In Sachen EU-HTA kommt noch viel Arbeit auf die Verantwortlichen zu. Denn nicht nur die Verhandlungen, auch die Umsetzung wird es in sich haben. Doch am Ende sollen die Patient:innen in ganz Europa davon profitieren – so die Hoffnung.

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