Gen- und Zelltherapien haben das Potential, bahnbrechende Perspektiven für bislang nicht therapierbare Erkrankungen zu schaffen. Die Regulatorik, nach der der Nutzen von Arzneimitteln bewertet wird, muss dringend überarbeitet werden. Foto: PF
Gen- und Zelltherapien haben das Potential, bahnbrechende Perspektiven für bislang nicht therapierbare Erkrankungen zu schaffen. Die Regulatorik, nach der der Nutzen von Arzneimitteln bewertet wird, muss dringend überarbeitet werden. Foto: PF

Gen- und Zelltherapien: Neue Regeln braucht das Land

Gen- und Zelltherapien haben das Potential, bahnbrechende Perspektiven für bislang nicht oder nur unzureichend therapierbare Erkrankungen zu schaffen. Die Regulatorik, nach der in Deutschland der Nutzen von Arzneimitteln bewertet wird, muss aber dringend überarbeitet werden. Auf dem Spiel steht ansonsten die Behandlung kranker Menschen mit Krebs oder seltenen Erkrankungen. Ein Job für die nächste Bundesregierung: Es geht dabei auch um ein Stück Zukunftsfähigkeit des Landes.
Professor Dr. Andrew Ullmann, Gesundheitspolitiker der FDP-Bundestagsfraktion
Professor Dr. Andrew Ullmann, Gesundheitspolitiker der FDP-Bundestagsfraktion. Foto: PF

Wenn eine Pharma-Vereinigung wie die LAWG zu einem parlamentarischen Frühstück lädt und dabei die Frage stellt, ob die aktuelle Methodik, mit der der Nutzen von Gen- und Zelltherapien für Patient:innen gemessen wird, noch zeitgemäß ist, dann kann man das getrost als eine rhetorische Frage verstehen. Dass dem nicht so ist, ist weitgehend Konsens in der deutschen Gesundheitspolitik. Der Grund dafür könnte positiver nicht sein: Es ist der medizinische Fortschritt, der immer bessere Möglichkeiten gebiert, schwere Erkrankungen erfolgreich zu behandeln. Aber die Frage, die sich immer lauter stellt, lautet: „Wie stellen wir medizinische Evidenz her und stellen sicher, dass Innovationen auch bei den Menschen ankommen?“, so Professor Dr. Andrew Ullmann, Gesundheitspolitiker der FDP-Bundestagsfraktion. Seine Sorge ist, dass die „innovative Kraft“ solcher Therapien nicht wahrgenommen wird. Medizinischer Fortschritt würde versanden. 

Der Hintergrund: Den Fortschritt zu greifen, ihn fassbar zu machen, ist immer schwieriger, komplexer geworden. Die moderne Medizin mit ihrem immer kleinteiligeren Einsichten in die Prozesse von Krankheiten, hat zu immer zielgerichteteren Interventionen und immer besseren Ergebnissen für Menschen mit Krebs oder seltenen Erkrankungen geführt – mit dem Ergebnis, dass die Patient:innenpopulationen, die für eine klinische Studie rekrutiert werden, immer kleiner werden. Das hat Folgen. Für Aussagen mit einer gewissen statistischen Aussagekraft braucht es „Masse“, also genug Menschen, die mit einer Krankheit leben und bereit sind, sich an Studien zu beteiligen. Je kleiner diese Masse ist, desto größer das Risiko von Verzerrungen (Bias) – die zu Fehlern in der Interpretation von Daten führen können.

Gen- und Zelltherapien: Medizin im Futur

Professor Christof von Kalle vom Berlin-Institute of Health (BIH)
Professor Christof von Kalle vom Berlin-Institute of Health (BIH). Foto: PF

Tatsache ist: Gerade die Gen- und Zelltherapien stehen für eine Medizin auf der Überholspur, für eine Medizin im Futur. Wenn aber die Methodik nicht mehr stimmt, nach der sie bewertet werden, besteht die Gefahr, dass ihr Nutzen nicht erkannt wird und sie deshalb nicht zum Einsatz kommen. Letztlich geht es um die Frage, ob Innovationen an veralteten Regeln zerschellen. Denn diese Regeln, das so genannte AMNOG-Verfahren, wurden entwickelt, als diese Therapien noch mehr oder weniger Zukunftsmusik waren. Klinische Forscher wie Professor Christof von Kalle vom Berlin-Institute of Health (BIH) fordern deshalb mehr Flexibilität in der Anwendung dieser Regeln, eine EU-weite Harmonisierung und mehr Tempo in den Prozessen.

Als „Goldstandard“, um medizinische Evidenz zu gewinnen, gilt bis heute die kontrollierte, randomisierte klinische Studie (RCT). Aber in der Praxis sieht von Kalle Einschränkungen. Das können ethische Erwägungen sein, wenn der Hälfte der Patient:innen (der Kontrollgruppe) in einer medizinisch aussichtlosen Situation ein Placebo-Präparat angeboten würde. Oder ganz praktische, weil die Rekrutierung der Teilnehmer:innen aufwändig und sehr teuer ist. Oder Faktoren, die die reale Versorgungswelt nur in Teilen abbilden, weil RCTs in einem sehr kontrollierten Umfeld stattfinden. Deswegen will der Onkologe auch, dass Daten aus der Versorgungswelt, die Real World Data, größere Berücksichtigung in der Bewertung von Therapien finden. Schließlich lässt sich so die Variabilität im Alltag besser darstellen. Ganz nebenbei: Professor von Kalle rät dazu, die Kostendebatte über Arzneimittelerstattungsbeträge mit „etwas weniger Panik“ zu führen; schließlich sei der Anteil der Kosten an den Gesamtausgaben der Gesetzlichen Krankenkassen seit vielen Jahren stabil (s. Grafik).

Klinische Studien: Als Standort wettbewerbsfähig bleiben

Der Arzneimittel-Anteil an den GKV-Gesamtausgaben lag 2023 bei 16,4 Prozent und somit auf exakt demselben Niveau wie zehn Jahre zuvor.Die Sicht der forschenden Industrie steuerte Robert Welte von Gilead Sciences bei. „Früher war das so: Man hatte ungefähr eine Ahnung, was eine bestimmte Krankheit ist und wusste, was sie mit den Menschen macht. Heute kennen wir von dieser Krankheit 50 Unterkrankheiten, die wir alle gezielt behandeln wollen.“ Der Direktor Market Access & Reimbursement sieht das erstmal positiv: „Wir verstehen Krankheiten viel besser. Aber es bedeutet auch, dass es Studien mit 20.000 oder 30.000 Patienten, wie wir sie früher hatten, heute nicht mehr gibt.“ Auch Welte fordert deshalb eine größere Flexibilität in der Methodik. Das AMNOG müsse weiterentwickelt werden. „Wir müssen die bestmögliche Evidenz schaffen.“ Und das geht aus seiner Sicht nur mit einem Werkzeugkasten, der jenseits des Goldstandards RCT andere Studiendesigns (z.B. Register-Studien) anwendbar macht und zum Beispiel Adjustierungen für Cross-Over (Therapiewechsel) innerhalb von Studien ermöglicht. Am Ende müssen die so gewonnenen Ergebnisse in einem Zusatznutzenbewertungsverfahren á la AMNOG auch akzeptiert werden. „Wenn wir das nicht machen, werden wir als Studienstandort den Anschluss verlieren. Dann werden solche Studien schlicht nicht mehr bei uns stattfinden“, meint Robert Welte. „Die Italiener sind uns schon voraus, die Franzosen auch.“ Früher, beklagt er, war das AMNOG ein ganz einfaches Gesetz. Stück für Stück sei es aufgebläht und mit dem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz auch verändert worden. „Seitdem ist alles schwierig.“ Gesetze vereinfachen, schlecht gemachte Gesetze wieder einsammeln: Da ist die Politik gefragt.

Robert Welte von Gilead Sciences
Robert Welte, Gilead Sciences. Foto: PF

Worum es bei der Diskussion eigentlich geht, ist die Frage: Gibt es eigentlich „gesichertes Wissen“ über die Wirkungen und Nebenwirkungen von Arzneimitteln? Gibt es so etwas wie die absolute Sicherheit? Allgemeines Kopfschütteln bei den Podiumsteilnehmern: Eine absolute Sicherheit über den Wahrheitsgehalt einer spezifischen Aussage gab es nie, gibt es nicht und wird es nie geben; sie kann immer nur ein Kompromiss sein. Ziel muss es sein, alles an Daten zu bewerten, um dieser maximalen Sicherheit möglichst nahe zu kommen – die „bestmögliche Evidenz“ halt. PD Dr. med. Stefan Lange, früher beim IQWiG, heute Chief Scientific and Medical Officer, Dierks & Company, sprach davon, methodisch unter bestimmten Bedingungen das „Irrtumsniveau“ ein wenig anzuheben – mit dem Ziel, dass Innovationen, bei denen die klassischen Instrumente zur Erlangung von medizinischer Evidenz an ihre Grenze stoßen, eben doch eine Chance haben, in ihrem Nutzen für kranke Menschen erkannt und auch entsprechend erstattet werden.

Warum das alles wichtig ist? Nie waren wir im Kampf gegen Krebs so weit wie heute, so der Tenor der Veranstaltung. Und auch für die Behandlung seltener Erkrankungen gab es noch nie ein so großes Portfolio. Der Innovationsmotor läuft weiter auf Hochtouren, das ist das Versprechen der forschenden Pharmaunternehmen, und wird in den kommenden Jahren weitere Innovationen liefern. Aber: Um die Ergebnisse der Forschung so schnell wie möglich zu den Menschen mit schweren Erkrankungen zu bekommen, müssen die Methoden modernisiert werden, nach denen darüber entschieden wird, ob eine Therapie Nutzen stiftet. Passiert das nicht, würgt die Regulatorik den Fortschritt ab. Die neue Regierung, die sich nach den Wahlen im Februar aufstellen wird, muss sich des Themas annehmen: Auf dem Spiel steht – zumindest, was die Medizin betrifft – ein Stück Zukunftsfähigkeit des Landes.

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