Für die einen sind Zell- und Gentherapien vor allem eine Frage der Ethik, für andere sind sie eher eine Frage des Geldes. Für viele Patient:innen aber bedeuten sie: Hoffnung – auf ein Leben ohne Schmerzen, auf zusätzliche Lebensjahre, vielleicht sogar auf Heilung. Bisher werden solche Therapien vor allem für seltene Krankheiten entwickelt und eingesetzt, doch das ist erst der Anfang. „Es gibt rund 6.000 Krankheiten, die durch ein einziges Gen ausgelöst werden“, erklärte Dr. André Cohnen, Head Genomic Medicine bei der Bayer AG. „Zell- und Gentherapien können wir vor allem in Feldern entwickeln, in denen wir noch keine Therapien haben.“ Dies gelte für seltene Erkrankungen, aber auch für Krankheiten, die viele Menschen betreffen. Potenzial gebe es etwa bei Morbus Parkinson. Grundsätzlich bieten Zell- und Gentherapien die Chance, die Medizin in den kommenden Jahren grundlegend zu verändern – hin zu einer personalisierten Therapie, die auf die jeweiligen Patient:innen individuell zugeschnitten wird.
Aber: „Dürfen wir tatsächlich alles, was wir können?“ Das fragte Moderatorin Dana Bethkenhagen vom Tagesspiegel provozierend. Sind Behandlungen, die auf genetischer Veränderung basieren, ethisch vertretbar – oder sind sie womöglich sogar ethisch geboten?
Einig waren sich die Expert:innen darüber, dass es rote Linien geben sollte: „Ich wäre zum Beispiel zurückhaltend bei Keimbahneingriffen“, erklärte die Theologin Ruth Denkhaus, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Gesundheitsethik an der Evangelischen Akademie Loccum. Solche Eingriffe in die menschliche Keimbahn, bei denen das Erbmaterial menschlicher Embryonen verändert werden kann, schließt auch André Cohnen für sein Unternehmen aus: „Wir beteiligen uns nicht an Keimbahntherapien – denn da ist vieles noch unklar.“
Innovation und die Fragen der Ethik
Prof. Dr. Dirk Lanzerath, Geschäftsführer des Deutschen Referenzzentrums für Ethik in den Biowissenschaften, betonte: „Ethik ist nicht nur eine Frage der Verbote. Wir müssen auf Innovation schauen und dann auf Ethik“. Bei ethischen Fragen gehe es nicht nur um „dürfen“ und „können“, sondern auch um Transparenz der Forschung, um das Einbinden von Patient:innen, um Finanzierungsfragen und nicht zuletzt um die Frage: „Machen wir das nur für uns? Oder müssen wir auch auf den globalen Süden schauen?“ Ruth Denkhaus sah das genauso: „Die primäre ethische Frage ist die nach einem gerechten, nachhaltigen Zugang.“ Ein erster Schritt für einen solchen Zugang – in Deutschland, in Europa und weltweit – könnte nach André Cohnens Überzeugung in einem offenen Dialog bestehen, „bei dem sich alle Beteiligten an einen Tisch setzen.“ Und Dirk Lanzerath ergänzte: „Gesundheitsprobleme sind gesellschaftliche Probleme – ähnlich wie Umweltprobleme. Wir müssen in größerem Maßstab denken und uns fragen: Was tut uns als Gesellschaft gut?“
Klar ist: Neuartige Therapien sollten möglichst schnell und sicher verfügbar sein. Viele Patient:innen mit seltenen und/oder chronischen Erkrankungen sind gut vernetzt und informiert: „Meine Patienten wissen oft früher als ich, wenn es eine neue Gentherapie gibt“, berichtete Dr. Andreas Ziegler, Oberarzt im Uniklinikum Heidelberg. Viele wollen die neue Therapie so schnell wie möglich ausprobieren – auch dann, wenn noch keine Langzeitdaten zu Sicherheit und Wirksamkeit vorliegen.
Ein großer Hoffnungsträger ist zum Beispiel ein Wirkstoff, der 2022 eine bedingte Zulassung zur Behandlung von erwachsenen Patient:innen erhielt, die an Hämophilie A leiden, im Volksmund bekannt als „Bluterkrankheit“. Hier ersetze eine einzige Infusion den fehlenden Gerinnungsfaktor VIII und damit auch die bisherige Langfrist-Therapie, erklärte Dr. Dorothee Andres, Referatsleiterin für Biotechnologische Innovation, Nanotechnologie und Gentechnik im Bundesgesundheitsministerium.
ATMPs: Versorgung sichern
Grundsätzlich sind neue Therapien in Deutschland schneller verfügbar als in anderen Ländern: Zwischen Zulassung und Einführung von Medikamenten gegen seltene Erkrankungen vergehen im Durchschnitt 102 Tage – das ist Platz 1 im europäischen Vergleich (s. EFPIA). Bei Arzneimitteln für neuartige Therapien (ATMPs), zu denen Gentherapien zählen, macht Oberarzt Ziegler dennoch „die Übersetzung in die Versorgungsrealität“ Sorge. Sprich: Solche Therapien müssen auch finanziert werden. Ziegler befürchtet, dass viele spezialisierte Zentren bestimmte Gentherapien gar nicht oder bald nicht mehr anbieten können. Dabei gehe es nicht nur um das Geld für die Therapien, sondern auch um „gut ausgebildete Leute mit hochspezialisiertem Knowhow – die sind nicht kostenlos.“ Und: „Anwendungsbegleitende Datenerhebungen sind zum Beispiel gute Instrumente – aber es sind auch Beobachtungsstudien, die nicht refinanziert werden, wir erhalten dafür 0 Cent.“ Kostenlose Qualitätssicherung sei „eine Illusion“ – stattdessen brauche es „politische Impulse“, um die Versorgung mit ATMPs zu sichern.
Die wichtigste Erkenntnis zu diesem Tagesspiegel-Fachforum fasste Patient:innen-Vertreter Joachim Sproß zusammen, Bundesgeschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke: „Wir müssen uns als Gesellschaft entscheiden, ob wir nach dem neuesten Stand therapieren wollen. Wenn ja, dann müssen wir dem alles unterordnen.“ Seiner Ansicht nach gehört die Finanzierung des gesamten Gesundheitssektors auf den Prüfstand, denn: „Von Gott gegeben ist die Erkrankung – aber nicht die Finanzierung.“
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Gen- und Zelltherapien: Von der Forschung zu den Patient:innen
„Auf dem Thema ruhen große Hoffnungen“: So führte Susan Knoll, Verlagsleiterin Politische Kommunikation beim Tagesspiegel, in eine hybride Veranstaltung ein, auf der Fachleute aus Wissenschaft, Industrie, Politik und Behörden über Gen- und Zelltherapien diskutierten. Dabei wurde deutlich: In Deutschland und Europa gibt es viel zu tun. Zwar ist die hiesige Grundlagenforschung stark. Doch an der sogenannten Translation – der Überführung von wissenschaftlichen Erkenntnissen in konkrete klinische Studien und zugelassene Arzneimittel für die Patient:innen – hapert es. Das geht besser – andere Länder wie die USA machen es vor.
Zell- und Gentherapien: Aufbruch in eine neue Ära
Sie sind ein Gamechanger: Sie können Patient:innen mit schweren Erkrankungen, für die es kaum mehr Hoffnung gab, neue Behandlungsoptionen eröffnen. Die Rede ist von Zell- und Gentherapien – etwa in Form von sogenannten „CAR-T-Zellen“, die bei bestimmten Blutkrebsformen zum Einsatz kommen. Doch derartige Innovationen bringen auch große Herausforderungen mit sich – wenn es etwa um die Frage geht, wie sie ans Krankenbett gelangen. Darüber sprachen mehrere Fachleute aus dem Gesundheitswesen bei einer Onlineveranstaltung des LAWG Deutschland e.V. – ein Verein, dem weltweit agierende, forschungsorientierte Arzneimittelunternehmen angehören.
„Gentherapie bei Hämophilie: Viele sagen, sie wollen das unbedingt machen“
Es ist eine atemberaubende Entwicklung: Noch bis in die 1960er-Jahre war eine normale Schulzeit für Menschen, die an der schweren Verlaufsform der Hämophilie litten, kaum möglich. Schwere Einblutungen in Gelenken und Muskulatur führten zu Fehlzeiten und Aufenthalten im Krankenhaus. Manche besuchten Internate, die eigens für Hämophilie-Betroffene eingerichtet wurden. Jahrzehntelang war eine Blutspende von nahen Verwandten oft die einzige Behandlungsoption. Erst Ende der 1960er-Jahre wurde das Leben der Patienten und Patientinnen deutlich einfacher. Denn von da an gab es Gerinnungsfaktorkonzentrate, die ab den 1970er-Jahren nicht mehr von Ärzten und Ärztinnen verabreicht werden mussten, sondern von den Betroffenen selbst gespritzt werden konnten – im Rahmen der sogenannten „ärztlich kontrollierten Heimselbstbehandlung für Bluter“. In den 1990er Jahren kamen erstmals gentechnisch hergestellte Faktorenkonzentrate auf den Markt. Heute gibt es zudem Konzentrate, die für eine stabile Blutgerinnung sorgen und einen so genannten biphasischen Antikörper, der den Gerinnungsfaktor VIII ersetzt und unter die Haut injiziert wird. Und: Es werden Gentherapien entwickelt, von denen sich viele nicht nur eine Kontrolle ihrer Erkrankung, sondern Heilung erhoffen. Wie realistisch diese Hoffnungen sind und was man über die „Bluter-Krankheit“ sonst noch wissen sollte, darüber haben wir mit Dr. Georg Goldmann gesprochen, Oberarzt am Hämophiliezentrum in Bonn.