Gentherapien gegen die Blutgerinnungsstörung Hämophilie sind eine medizinische Sensation. Nun ist im Gesundheitssystem Netzwerkzusammenarbeit auf höchstem Niveau gefragt. Foto: ©iStock.com/champpixs
Gentherapien gegen die Blutgerinnungsstörung Hämophilie sind eine medizinische Sensation. Nun ist im Gesundheitssystem Netzwerkzusammenarbeit auf höchstem Niveau gefragt. Foto: ©iStock.com/champpixs

Gentherapien gegen Hämophilie: Vernetzung ist das A und O

Gentherapien gegen die Blutgerinnungsstörung Hämophilie sind eine medizinische Sensation. Die Hoffnungen sind groß. Damit alles bestmöglich funktioniert, braucht es unter allen Beteiligten im Gesundheitssystem Netzwerkzusammenarbeit auf höchstem Niveau. Im Mittelpunkt: die Patient:innen.
Hämophilie war früher oft ein Todesurteil, heute ist sie immer besser behandelbar. Foto: iStock.com / gorodenkoff
Hämophilie war früher oft ein Todesurteil, heute ist sie immer besser behandelbar. Foto: iStock.com / gorodenkoff

Die Diagnose Hämophilie war früher oft ein Todesurteil, heute können Betroffene die in ihrem Blut unzureichend vorliegenden Gerinnungsfaktoren über Medikamente ersetzen: Sie müssen sie regelmäßig spritzen, um akute Blutungen möglichst zu verhindern. Das kann eine große Belastung sein – hinzukommt, dass gerade Menschen mit schweren Verlaufsformen weiterhin unter Schmerzen und Blutungen leiden, die unter anderem die Gelenke angreifen.

Vor diesem Hintergrund sprach Mediziner Prof. Dr. Johannes Oldenburg, Uniklinikum Bonn, von einem „Durchbruch“, als im vergangenen Jahr eine erste Gentherapie in Europa zur Behandlung von schwerer Hämophilie A zugelassen wurde. Die Therapieoptionen wurden damit „um eine einmalige Infusion erweitert“. Seit Februar 2023 ist zudem eine Gentherapie gegen Hämophilie B zugelassen. Das ZDF erklärt: „Damit kann die Krankheit zwar nicht geheilt werden, aber eine schwere Verlaufsform der Hämophilie kann so in eine mildere Variante umgewandelt werden.“ Oldenburg wird zitiert: „Die Qualität der Behandlung können wir mit der Gentherapie erheblich verbessern, spontane Blutungen völlig ausschließen und eine bessere Gelenkgesundheit ermöglichen.“

Gentherapien: Netzwerken ist gefragt

Dr. Anja Reichert, Senior Medical Director Deutschland und Österreich beim forschenden Pharmaunternehmen BioMarin
Dr. Anja Reichert, BioMarin. Foto: BioMarin Deutschland GmbH

Das hört sich vielversprechend an. Und die Verabreichung scheint relativ simpel zu sein: Es braucht eine ambulante Infusion, die innerhalb weniger Stunden erfolgt – längere, stationäre Krankenhausaufenthalte sind in der Regel nicht notwendig. „Das klingt einfacher als es ist. Hinter jeder einzelnen Gentherapie verbergen sich äußerst komplexe Prozesse – von umfassenden Arzt-Patienten-Gesprächen, über Voruntersuchungen, bis hin zur Dosierung und Nachsorge“, betont Dr. Anja Reichert, Senior Medical Director Deutschland und Österreich beim Pharmaunternehmen BioMarin. „Die Gentherapie hebt die Anforderungen an die Zusammenarbeit in Netzwerken im Gesundheitssystem auf ein neues Level.“

Das liegt unter anderem daran, dass nur wenige Menschen für eine solche Behandlung in Frage kommen. Rund 10.000 Menschen mit Hämophilie leben Schätzungen zufolge in der Bundesrepublik – es ist eine seltene Erkrankung. Bei Weitem nicht alle sind für eine Gentherapie geeignet. Bislang sind die Präparate nur für Erwachsene mit schweren Verlaufsformen und unter ganz bestimmten Voraussetzungen zugelassen. Das heißt: Hochinnovative Therapien, deren Anwendung nicht nur Interdisziplinarität, sondern besonderes Fachwissen verlangt, über das relativ wenige Mediziner:innen verfügen, treffen auf sehr wenige Erkrankte, die verstreut in ganz Deutschland leben. Wie lässt sich das organisieren, sodass der medizinische Fortschritt bei jedem Einzelnen ankommt?

Lösung bietet ein Versorgungsmodell, das den Namen „Hub and Spoke“ trägt und von der „European Association for Haemophilia and Allied Disorders“ (EAHAD) sowie dem „European Haemophilia Consortium“ (EHC) 2021 in einer gemeinsamen Publikation empfohlen wurde. Grob zusammengefasst gibt es demnach 2 Arten von Hämophilie-Zentren, die in die gentherapeutische Behandlung eingebunden werden sollen. Die Aufgabenverteilung könnte wie folgt aussehen: Hub-Zentren mit Fachwissen und Erfahrung rund um die Dosierung führen die Gentherapie durch – heimatnahe Spoke-Zentren führen die Betroffenen vorher der Gentherapie zu und übernehmen anschließend die Nachsorge. Meist sind sie den Menschen mit Hämophilie vertraut, weil sie dort schon zuvor medizinisch versorgt wurden. Ein „großes Zentrum“ stellt „Fachexpertise zur Verfügung“, um „viele kleinere, geografisch verteilte Zentren zu unterstützen“, fasst ein EHC-Team zusammen.

Gentherapie: Menschen mit Hämophilie im Mittelpunkt

Doch das Netzwerk an Menschen, die hinter den einzelnen Patient:innen stehen, geht über die Mediziner:innen aus den Hämophilie-Zentren hinaus: So können sie zum Beispiel von Angehörigen, anderen Betroffenen, Patienten-Vertreter:innen und weiterem Fachpersonal wie Psycholog:innen durch die vorbereitenden Phasen – Gespräche, Aufklärung, Bürokratie, Voruntersuchungen – begleitet werden. „Zu den Voruntersuchungen gehören Blutproben, um zu sehen, ob bestimmte Antikörper vorliegen, welche die Wirksamkeit der Behandlung reduzieren können“, sagt Dr. Reichert. „Außerdem braucht es Gutachten zur Leber-Gesundheit von entsprechenden Spezialist:innen. Auch Begleiterkrankungen müssen in Betracht gezogen werden.“ Nicht bei allen Menschen kann eine Gentherapie zum Einsatz kommen.

Gentherapie: Menschen mit Hämophilie im Mittelpunkt
Nicht bei allen Menschen kann eine Gentherapie zum Einsatz kommen. Foto: ©iStock.com/BlindTurtle

Mehrere internationale Wissenschaftler:innen rund um Declan Noone von der Irischen Hämophilie-Gesellschaft betonen in einem Artikel, wie wichtig es ist, dass im  gesamten Prozess die Patient:innen im Mittelpunkt stehen. „Informierte, partizipative Entscheidungsfindung“ – so lautet die Zauberformel. Soll heißen: Die Betroffenen sind so gut informiert, dass sie aktiv und gemeinsam mit den Mediziner:innen eine Übereinkunft zu ihrer Behandlung treffen können. Eine „einmal getroffene Entscheidung“ könnte aufgrund der aktuellen Technologie „potenziell zur Folge haben, dass die Patienten für künftige Gentherapien nicht mehr geeignet sind.“ Doch eine Gentherapie hat das Potenzial das Leben der Menschen auf den Kopf zu stellen – wenn sie zum Beispiel Aktivitäten und Reisen erlaubt, die vorher aufgrund des Gesundheitszustands und regelmäßig notwendiger Medikamenteneinnahme womöglich nicht denkbar waren. Nach der Durchführung der Gentherapie folgt eine Zeit der Nachsorge, in der das medizinische Fachpersonal aus Hämophilie-Zentren insbesondere das individuelle Ansprechen auf die Behandlung im Blick hat. „Für viele wird es eine ganz neue Art zu leben sein“, so Noone und Co. 

Ein Datenschatz wächst Schritt für Schritt

Es sind enorme Datenberge, die sich in der gesamten Zeit bei unterschiedlichen Quellen ansammeln. Die Gesellschaft für Thrombose- und Hämostaseforschung (GTH) empfiehlt daher „die Nutzung geeigneter elektronischer Systeme“. Labordaten, Untersuchungsergebnisse, Patienten-Tagebücher – alle relevanten Informationen – könnten dort von „Hub-Zentrum, Spoke-Zentrum und Patient gemeinsam dokumentiert werden“. So lassen sich Doppeluntersuchungen vermeiden, Kommunikationsprozesse effizienter gestalten, die Betroffenen aktiv einbinden.

Ein Datenschatz wächst Schritt für Schritt
Elektronischer Datenschatz: Doppeluntersuchungen vermeiden. Foto: ©iStock.com/ipopba

„Nicht zuletzt werden elektronische Informationssysteme zum Management der Gentherapie auch die wesentliche Primärquelle für Daten sein, die für Register und Studien benötigt werden“, so die GTH. Die Wissenschaftler:innen um Noone finden: „Das langfristige Ziel ist es natürlich, mehr über Gentherapien gegen Hämophilie zu lernen“. Jede behandelte Person kann daran mitwirken: Denn mit einem Schritt für Schritt größer werdenden Daten- und Wissensschatz ergeben sich enorme Chancen – um weiter zu forschen, um die Behandlung zu optimieren und noch besser zu managen. „Die Erhebung von Daten aus dem Versorgungsalltag ist von großer Bedeutung, denn so können zusätzliche Erkenntnisse zu neuen Therapien gewonnen werden – und das leistet letztlich einen Beitrag für eine bessere Versorgung der Patienten“, resümiert Dr. Reichert. Das gilt insbesondere für innovative Gentherapien – etwa um mehr Informationen über große Zeithorizonte zu sammeln.

Die Gentherapie „wirkt sehr gut“, sagte Mediziner Prof. Dr. Johannes Oldenburg im April in einem Gespräch mit dem Deutschlandfunk mit Blick auf Hämophilie A. „Die Patienten erreichen damit im ersten Jahr […] eine fast normale [Blut-]Gerinnung und haben für 5 bis 8 Jahre einen Zeitraum, wo sie keine Prophylaxe mehr benötigen.“ Soll heißen: Von regelmäßigen Injektionen sind sie dann befreit; parallel läuft die Forschung weiter. Der britische Patient Jack Grehan, der schon im Rahmen einer klinischen Studie erfahren durfte, was das heißt, erklärte in einem Interview auf YouTube: „Das hat mein Leben massiv verändert“. 

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