Der Virologe Prof. Dr. Hendrik Streeck brachte die positive Botschaft in seiner Videoansprache auf den Punkt: „Jede HIV-Infektion ist mit den Methoden, die wir haben, vermeidbar. Mit einem Bruchteil dessen, was die Corona-Pandemie gekostet hat, kann man die HIV-Pandemie eindämmen, wenn nicht sogar beenden.“ Trotz dieser erfreulichen Tatsache infizieren sich nach Streecks Angaben jeden Tag weltweit immer noch 4.000 Menschen mit HIV. Und das Coronavirus habe die Sache nicht besser gemacht: „Die Pandemie hat viel überlagert, auch den Kampf gegen AIDS“, so Streeck. So habe es seit 2020 einen dramatischen Rückgang an HIV-Testungen, -Beratungen und -Therapie gegeben. Mit anderen Worten: „Der Kampf gegen HIV und AIDS ist ins Stocken geraten.“
Dabei haben die Vereinten Nationen ihre Ziele für die HIV-Bekämpfung nach oben geschraubt. Statt der bisherigen 90-Prozent-Marke für Diagnosen und Therapien gilt es nun, bis zum Jahr 2025 das 95-95-95-Ziel zu erreichen: 95 Prozent der HIV-Infizierten sollen von ihrer Diagnose wissen, 95 Prozent davon sollen antiviral therapiert werden und bei 95 Prozent der Therapierten soll die Viruslast unter der Nachweisgrenze liegen – bei einer so geringen Viruslast gäbe es keine Ansteckungen mehr.
Maßnahmen für eine erfolgreiche HIV-Strategie
Aber ist das nur eine Vision oder kann es tatsächlich Wirklichkeit werden? Nach Überzeugung von Prof. Dr. Jürgen Rockstroh, Leiter der HIV-Ambulanz am Bonner Universitätsklinikum, hängt eine erfolgreiche HIV-Strategie von drei „vordringlichen Maßnahmen“ ab:
- Es muss möglichst viele HIV-Tests geben und ihre Finanzierung muss gesichert sein.
- Wir müssen etwas gegen die Stigmatisierung von HIV-positiven Menschen unternehmen.
- Wir müssen bei der Prävention Gruppen erreichen, die bislang nicht gut erreicht werden.
Wie Streeck sagt auch Rockstroh: „Wir haben alle Mittel zur Prävention.“ Zudem gebe es hervorragende Therapien. Und: „Menschen in Therapie haben eine normale Lebenserwartung.“ Dies liege auch daran, dass es heute kaum noch Therapie-Abbrüche wegen zu starker Nebenwirkungen gebe – die Quote liegt hier unter 2 Prozent.
Die Schwachpunkte bei der AIDS-Bekämpfung liegen heute nicht mehr im medizinischen, sondern im gesellschaftlichen Bereich. „Das größte Problem ist die Stigmatisierung“, so Rockstroh, „denn wer stigmatisiert wird, lässt sich nicht testen.“ In zahlreichen Ländern – Polen, Russland und viele andere – gebe es „homophobe Gesetze“, die den Umgang mit HIV erschweren. Und auch in Deutschland sei nicht alles perfekt, auch hier gebe es „bestimmte Gruppen, die zurückgelassen wurden.“ Zwar seien die HIV-Strategien in der homosexuellen Community sehr erfolgreich. „Aber bei Drogengebrauchenden und Heterosexuellen verzeichnen wir einen leichten Anstieg.“ Dies habe in der Summe dazu geführt, dass die Zahl an Neuinfektionen in Deutschland stagniere und zuletzt bei 1.800 Fällen pro Jahr gelegen habe.
Was vielleicht noch schwerer wiegt: Von den derzeit rund 90.800 HIV-positiven Menschen in Deutschland wissen nach Angaben des Robert Koch-Institutes rund 8.600 noch nichts von ihrer Infektion; 18 Prozent der Diagnosen erfolgen erst, nachdem das „Vollbild AIDS“ bereits ausgebrochen ist. Deutschland erreicht nur eine 90-Prozent-Quote bei der Rate an diagnostizierten HIV-Infektionen. Bei Behandlung und „unter der Nachweisgrenze“ sieht es mit jeweils 96 Prozent deutlich besser aus.
HIV: Die 100-Prozent-Vision
Doch was muss und könnte getan werden, um nicht nur die 95-Prozent-Ziele von UNAIDS zu erreichen, sondern vielleicht sogar 100 Prozent? Dieser Frage geht das Projekt „HIVISION100“ nach – eine Initiative von Gilead Sciences. Richard Rastgooy, HIV-Spezialist bei dem forschenden biopharmazeutischen Unternehmen, sagt: „Wir müssen testen, testen, testen.“ Und weiter: „Es ist leise geworden beim Thema HIV – wir müssen wieder lauter werden. Wir müssen HIV mehr ins Bewusstsein der Bevölkerung rücken.“ Wie das gehen kann, darüber machen sich die 100-Visionäre gemeinsam mit Expert:innen aus Medizin und HIV-Community Gedanken. „Im kommenden Frühjahr“, so Rastgooy, „wollen wir dann mit Politik und Ärzteverbänden besprechen, was wir tun können.“
Daniel Nagel, CEO der gemeinnützigen ohhh! Foundation, die „Human Health and Happiness“ fördert, hat da schon jetzt einige unkonventionelle Ideen. „Wir machen viel bei Tiktok und wir unterstützen Lehrer:innen mit Unterrichtsmaterialien“, erklärte er, denn die Aufklärung über HIV müsse schon in der Schule beginnen. Doch daran hapere es. „Außer bei Veranstaltungen wie hier beim Tagesspiegel sieht man die rote Schleife überhaupt nicht mehr“. Dabei gebe es durchaus Erfolge, wenn man kreativ und unkonventionell vorgehe. „Wir waren bei Festivals, wo die Menschen am Glücksrad drehen konnten und anschließend haben sie einen HIV-Test gemacht – da hat jede und jeder teilgenommen.“ Zudem ist es nach Nagels Überzeugung höchste Zeit „HIV in die Regelversorgung zu integrieren – es könnte normal sein, beim Hausarzt regelmäßig HIV-Tests zu machen.“ Das ist zwar auch heute schon möglich, aber anders als bei der Aids-Hilfe oder den Gesundheitsämtern erfolgen die Tests dort nicht anonym.
Lobende Worte für die Pharma-Industrie
Um bis 2030 ein Ende der AIDS-Pandemie zu erreichen, muss es einen weltweiten Zugang zu HIV-Therapien geben. „Gerade im globalen Süden ist das wichtig“, erklärte Tina Rudolph, Mitglied im Gesundheitsausschuss des Bundestages (SPD). Sie verbrachte während ihres Medizin-Studiums einige Zeit in Sambia und sagt heute: „Dort war der Durchbruch, als man die Menschen mit einer einzigen Pille therapieren konnte.“ Eine Therapie mit vielen Tabletten sei dort nicht praktikabel. Ein weiterer Durchbruch sei, dass es dort bald eine PrEP, also eine Prä-Expositions-Prophylaxe, geben werde, die nur alle zwei Monate als Spritze gegeben werden müsse. „Solche Entwicklungen müssen wir unterstützen“, so Rudolph. Und „lobend in Richtung Industrie“ fügte sie hinzu, dass es hierfür bereits eine Lizenz für einen Pool der Weltgesundheitsorganisation WHO gebe, die es ermögliche, „das dann auch in die weltweite Produktion zu geben. Allerdings muss es dann auch Unterstützung dabei geben, dass dieses Generikum auch wirklich zugänglich wird.“
Fazit: Es braucht Präventionsprojekte, mit denen möglichst viele Menschen erreicht werden. Stigmatisierung muss bekämpft werden. Es muss für alle Menschen einen Zugang zu HIV-Medikamenten geben, sei es zur Behandlung oder im Rahmen der PrEP-Vorsorge. Oder, wie es Richard Rastgooy formulierte: „Es gibt gute Ziele, aber der Plan muss überarbeitet werden.“ Es gehe nicht nur um die Frage, welche Ziele wir erreichen wollten, sondern auch darum, wie wir sie erreichen können.
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