Das Konzept der „Patient Journey“ setzt auf die konsequente Nutzung von Gesundheitsdaten entlang der gesamten Behandlung. Eine bessere Medizin ist möglich. Foto: ©iStock.com/molchanovdmitry
Das Konzept der „Patient Journey“ setzt auf die konsequente Nutzung von Gesundheitsdaten entlang der gesamten Behandlung. Eine bessere Medizin ist möglich. Foto: ©iStock.com/molchanovdmitry

Medizin: Wenn Patient:innen auf „Reise“ gehen

Die konsequente Erhebung, Verknüpfung und Auswertung von im Laufe des Behandlungspfades erhobenen Gesundheitsdaten verbessern Therapieerfolg, Gesamtüberleben und Wohlbefinden von Patient:innen. Professor Dr. Christof von Kalle vom Berlin Institute of Health (BIH) in der Charité, plädiert deshalb für eine ganzheitliche Betrachtung, bei der neben krankheitsspezifischen auch psychosoziale Aspekte und die subjektive Wahrnehmung der Menschen berücksichtigt werden. Ein Gespräch mit dem Krebsforscher und -arzt über das Konzept der „Patient Journey“.

Professor von Kalle: Was bedeutet das – eine „Patient Journey“?

Professor Dr. Christof von Kalle, Berlin Institue of Health (BIH)
Professor Dr. Christof von Kalle, Berlin Institue of Health (BIH). Foto: @Foto: BIH/Stefan Zeitz

Professor von Kalle: Das Konzept sieht vor, dass wir Menschen von der Prävention über die Diagnose, die Behandlung bis hin zur Nachsorge begleiten. Dabei geht es nicht nur um klassische Fakten der Medizin, sondern auch um Faktoren wie die familiäre Krankheitsgeschichte, soziale und psychosoziale Kontexte, die Selbsteinschätzung während der Therapie oder ganz allgemein darum, wie die Patient:innen den Erfolg ihrer Behandlung bewerten – die so genannten „Patient Reported Outcomes“ (PROs). Erst wenn wir das miteinbeziehen, betreiben wir eine wirklich umfassend patientenzentrierte Medizin. Aus der Therapie eines Brustkrebses wird die Therapie des sehr individuellen Brustkrebses von Frau A, während aus der Therapie eines Prostatakrebses die Therapie des Prostatakrebses von Herrn B wird. Die Medizin wird besser, weil individualisierter und präziser. Die Nutzung der Gesundheitsdaten stellt den Menschen in den Mittelpunkt. Es geht darum, die Menschen mit ihren Erkrankungen wirklich zu verstehen.

Warum machen wir es nicht einfach?

Von Kalle: Weil wir das momentan gar nicht können. Denn die Voraussetzung dafür ist, dass wir die im Laufe der Versorgung an den verschiedensten Stellen gesammelten Gesundheitsdaten zusammenführen und auswerten können. Dazu fehlt uns momentan fast alles: Eine Infrastruktur, die den Datenaustausch möglich macht, eine gemeinsame Datensprache als Voraussetzung für eine sinnstiftende Analyse, eine Art Straßenverkehrsordnung, die sicherstellt, dass die Gesundheitsdaten für die Forschung genutzt werden können, wenn die Patient:innen zustimmen. Wir wissen, dass der Behandlungserfolg, das Gesamtüberleben und das Wohlbefinden der Patient:innen durch eine gemeinsame Datensprache und einen ganzheitlichen, menschenzentrierten Ansatz verbessert werden können. Aber in unserem Gesundheitswesen herrscht das „Turmbau-zu-Babel-Prinzip“.

Was meinen Sie damit?

Von Kalle: In der Bibel scheitert der Turmbau zu Babel daran, dass alle verschiedene Sprachen sprechen und sich nicht verstehen. Im Gesundheitswesen wird eine bessere Versorgung kranker Menschen aus ähnlichen Gründen verhindert. Es gibt keine gemeinsame Datensprache und die Daten sind nicht verknüpft – es herrscht die babylonische Sprachverwirrung. Am Mangel an Daten liegt es übrigens nicht. Da gilt Deutschland schon fast als Paradies. Umso tragischer ist es, dass wir sie nicht nutzen.

Über was für Daten reden wir eigentlich?

Gesundheitsdaten können Forschung und Versorgung verbessern.
Gesundheitsdaten entstehen, wo Versorgung stattfindet. Foto: ©iStock.com/Grassetto

Von Kalle: Gesundheitsdaten entstehen überall dort, wo Versorgung stattfindet. Das sind Daten aus den Arztpraxen und Krankenhäusern oder Abrechnungsdaten der Krankenkassen. Wir haben wertvolle Sammlungen von medizinischen Informationen in Registern, wie den Krebsregistern, um zu besseren Therapieentscheidungen zu kommen. Wir haben Informationen über die subjektive Wahrnehmung eines Krankheitsverlaufs der Patient:innen und ihrer Angehörigen, die schon erwähnten „Patient Reported Outcomes“ (PROs). All das sind Versorgungsdaten aus dem medizinischen Alltag, die Real World Data (RWD). Und dann haben wir noch die Ergebnisse aus den klinischen Studien. Die Daten sind vorhanden, kommen aber aus unterschiedlichen Quellen und liegen dann in isolierten Silos, die nicht miteinander vernetzt sind. Um es mit einem Bild zu beschreiben: Wir haben ganz viele Datenseen, die einzeln gespeist werden. Was wir brauchen, ist ein Zusammenfluss der Quellen in ein Datenmeer. Davon würde auch die Forschung profitieren: Die Verknüpfung von Studien- und Versorgungsdaten liefert uns neue Erkenntnisse, aus denen neue Behandlungskonzepte und Therapien entstehen können.

Können Sie mit einem Beispiel plastischer machen, wie sich durch die Daten-Vernetzung die Medizin verbessern ließe?

Von Kalle: Ihr Arzt, Ihre Ärztin weiß, dass Sie ein bestimmtes Arzneimittel nicht vertragen – in der Akte in der Praxis ist das vermerkt. Nun kommen Sie wegen eines Eingriffs ins Krankenhaus und bekommen dort auch eine Akte. Woher aber soll das Klinikteam um Ihre Medikamentenunverträglichkeit wissen? In einer elektronischen Akte wäre das ganz einfach einsehbar. Ein anderes Beispiel: Ein Mensch mit Krebs hat ein Rezidiv, der Krebs ist zurück. Krebspatient:innen sind es mittlerweile gewohnt, mit ihren Aktenordnern unterwegs zu sein. Mit einer digitalen Lösung kann das Team von Ärzt:innen sofort auf wichtige Informationen zurückgreifen: Welche Therapien wurden bisher angewandt? Welche Nebenwirkungen hat es gegeben? Wie lange war der- oder diejenige krebsfrei? All das sind Voraussetzungen für ein schnelles und zielgerichtetes Handeln – und kann am Ende Leben retten. Die digitale Lösung – der Einblick in die „Patient Journey“ – vermittelt mir als Behandler sofort ein umfassendes Bild.

Wahrscheinlich steckt dahinter auch ein Kostenfaktor?

Chancen der Nutzung unserer Gesundheitsdaten
Erfolgreiche Medizin ist Teamwork. Foto: ©iStock.com/alphaspirit

Von Kalle: Natürlich. Ich erspare dem System, aber auch den Patient:innen, sinnlose Doppeluntersuchungen. Ich erspare mir Therapiewege, weil ich sehe, dass sie in diesem konkreten Fall nicht funktioniert haben. Hinzu kommt: Die moderne Medizin wird immer interdisziplinärer. Erfolgreiche Medizin und Krebstherapie ist Teamwork von Menschen mit den verschiedensten Spezialisierungsgraden, die im Übrigen auch nicht alle an einem Ort sind. Schon deshalb brauchen wir eine einheitliche Datenerfassung und eine Infrastruktur, die die Nutzung möglich macht. 

Was muss passieren?

Von Kalle: Erst einmal brauchen wir ein positives Verständnis von Datennutzung im Gesundheitswesen, eine Art Kulturwandel. Wir diskutieren das Thema immer antagonistisch: Wir dürfen Gesundheitsdaten nicht zusammenführen, weil es ein Risiko für den Schutz des Einzelnen auf informationelle Selbstbestimmung sein könnte. Dass wir durch den Datenschutz, so wie wir ihn praktizieren, Menschen verlieren, scheint niemanden zu stören. Es geht nicht um ein Entweder-oder. Die Frage muss sein: Wie können wir die Chancen einer digitalisierten Medizin nutzbar machen und gleichzeitig höchste Datenschutz- und Datensicherheitsstandards garantieren? Im Übrigen kenne ich auch niemanden, der für einen laxeren Umgang plädiert. Gesundheitsdaten sind hochsensible Daten, die maximal geschützt bzw. gesichert werden müssen. Ein bisschen weniger Ideologie, ein bisschen mehr Pragmatismus würde uns guttun. Datenschutz in Deutschland heißt vor allem das Nicht-Prozessieren von Daten. Das kann es nicht sein. Andere Länder in Europa schaffen das ja auch.

Aber die Menschen müssen schon auch mitspielen. Schließlich kann man niemanden zwingen, seine Daten zu teilen?

Von Kalle: Niemand wird zu irgendetwas gezwungen. Informationelle Selbstbestimmung ist genau das: Das Recht des Einzelnen, über seine Daten zu bestimmen und auch zu sagen: Meine Daten oder einen bestimmten Teil meiner Daten bekommt niemand zu sehen. Nach meiner Erfahrung ist das aber eine Minderheit – und das gilt insbesondere für Krebspatient:innen. Dort ist die Zustimmungsrate zum Teilen der eigenen Daten annährend 100 Prozent. Warum? Weil sie wissen, dass wir ihnen damit eine individuellere, bessere Behandlung bieten können. Deshalb müssen wir das tun, was jetzt bei der elektronischen Patientenakte (ePA) vorgesehen ist: Wenn ich nicht mitmachen will, muss ich aktiv werden und widersprechen – nicht umgekehrt. Das ist das so genannte Opt-out Prinzip. Wir müssen dahin kommen, dass alle Gesundheitsdaten, die eine entscheidende Rolle in einer Behandlungssituation spielen, systematisch, fortlaufend und lückenlos gesammelt und ausgewertet werden können. Das ist dann wirklich personalisierte Medizin.

Für viele ist die digitalisierte Medizin aber eher eine entpersonalisierte Medizin…

Digitalisierte Medizin = Individualisierte Medizin?
Digitalisierte Medizin = Individualisierte Medizin? Foto: ©iStock.com/Pornpak Khunatorn

Von Kalle: …aber das Gegenteil ist der Fall. Versorgungsdaten sind gemachte und validierte Erfahrungen, was in der Therapie funktioniert hat und was nicht; ihre Verknüpfung mit der eigenen Krankheitsgeschichte ist individualisierte Medizin par excellence. Und wenn wir die Patient:innen dazu befähigen, ihre Gesundheitsdaten in individuellen Datenräumen selbst zu verwalten, und ihnen freistellen, ob sie die mit bestimmten Gesundheitsdienstleistern teilen wollen, dann stärken wir gleichzeitig die Patientensouveränität. Und die Selbstwirksamkeit, denn die aktive Einbindung in ihre Behandlung befähigt sie, sich kontinuierlich und aktiv an ihrem Gesundheitsmanagement zu beteiligen. Das kann zum Beispiel die Therapietreue erhöhen.

2 Digitalgesetze sollen in Deutschland in diesem Jahr noch verabschiedet werden; die Entwürfe sind bereits bekannt. Geht das in die richtige Richtung?

Von Kalle: Was bisher in Planung ist und uns bekannt, hat die richtigen Ansätze und Grundgedanken. In Teilen erscheint es aber noch sehr komplex und übervorsichtig, zuweilen sogar noch enger als das aktuell geltende Gesetz – aber der parlamentarische Prozess läuft ja auch noch und es ist noch nichts final. Es sollte allen klar sein: das Ganze kann in der Praxis nur funktionieren, wenn es einfach und klar verständlich ist. Wenn wir in Deutschland auch künftig den Anschluss an die moderne Medizin halten wollen, muss die Auswertung von Real World-Daten über die gesamte Patient Journey hinweg erlaubt und vereinfacht werden. Nur dann ist ein lernendes, patientenzentriertes Gesundheitssystem möglich, von dem alle Patient:innen profitieren können.

Weiterführende Links:

Zyumbileva, P., Uebe, M., Rudolph, S. et al. Den Patienten wirklich verstehen lernen: Real-world-Evidenz aus der „patient journey“. Präv Gesundheitsf (2022). https://doi.org/10.1007/s11553-022-00984-8

Löffler, J., Zyumbileva, P., von Kalle, C. ”Lessons learned“ aus derCOVID-19-Pandemie: Gesundheitsdatennutzung heute und morgen. PMQM Fachzeitschrift für pharmazeutische Medizin und Qualitätsmanagement (01/2022)

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