Das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz in der Bundesrepublik, der Entwurf für ein EU-Pharma-Paket auf europäischer Ebene: Leidtragende sind letztlich die Patient:innen – wie Menschen mit seltenen Erkrankungen. Foto: ©iStock.com/Andrzej Rostek
Das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz in der Bundesrepublik, der Entwurf für ein EU-Pharma-Paket auf europäischer Ebene: Leidtragende sind letztlich die Patient:innen – wie Menschen mit seltenen Erkrankungen. Foto: ©iStock.com/Andrzej Rostek

Seltene Erkrankungen: Wie Politik Innovationen die Vorfahrt nimmt

Gesundheitspolitik geht alle an: Das zeigt das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz. Eigentlich soll es vor allem eines tun: Geld auf Seiten der Krankenkassen einsparen. Aber es hat Folgen, die schon heute die Gesundheitsversorgung der Menschen in Deutschland verschlechtern. Auch auf europäischer Ebene arbeitet die Politik an einem neuen Gesetz: Das „EU-Pharma-Paket“ könnte laut einem Gutachten dazu führen, dass Forschung und Entwicklung zurückgeschraubt und deutlich weniger Orphan Drugs zugelassen werden. Rund 1,5 Millionen Menschen mit seltenen Erkrankungen würden in der Folge einer neuartigen Behandlungsoption beraubt.

Der medizinische Bedarf im Bereich seltener Erkrankungen ist „riesig“, schreiben die Firmen Alexion, BioMarin, Bristol Myers Squibb, Chiesi, Takeda, UCB und Vertex in einer Stellungnahme – gemeinsam sind sie die „Arbeitsgemeinschaft Therapie Seltene Erkrankungen (ATSE)“. Für 95 Prozent der „rare diseases“ fehlen wirksame Therapien. Was es braucht? Unaufhörliche Forschung und Entwicklung – genau daran arbeiten die pharmazeutischen Unternehmen.

Doch die Maßnahmen des vor rund einem Jahr verabschiedeten GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes (GKV-FinStG) verschlechtern „die Rahmenbedingungen und Anreize von Unternehmen, in die Forschung und Entwicklung (F&E) von Orphan Drugs zu investieren bzw. diese in Deutschland oder Europa einzuführen“, kritisiert die ATSE. Letztlich schade das den Patient:innen, „die dringend auf Therapien für ihre Erkrankung warten.“ 

Der Zusatznutzen von Orphan Drugs – von der EMA geprüft

Der Zusatznutzen von Orphan Drugs – von der EMA geprüft
Der Zusatznutzen von Orphan Drugs – von der EMA geprüft. Foto: ©iStock.com/Prostock-Studio

Eigentlich glänzte die Bundesrepublik bisher mit einer Spitzenposition: In keinem anderen europäischen Land haben die Patient:innen so schnell und umfassend Zugang zu neuen Orphan Drugs. Das liegt unter anderem daran, dass die deutsche Politik verstanden hat: Medikamente gegen seltene Erkrankungen sind nicht wie andere Medikamente – etwa gegen Diabetes. Forschende Pharmaunternehmen stehen vor besonderen Herausforderungen, zum Beispiel, wenn es um die Generierung von Daten in klinischen Studien geht: In der Regel ist recht wenig über die jeweilige Erkrankung bekannt, es gibt nur wenige Betroffene und diese wohnen weltweit verteilt. 

Um dieser speziellen Situation gerecht zu werden, war in dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) von 2011 ursprünglich geregelt, dass im hiesigen Bewertungsverfahren der Zusatznutzen von Orphan Drugs bis zu einer Umsatzschwelle von 50 Millionen Euro durch die vorangegangene europäische EMA-Zulassung als belegt gilt. Sie mussten dann also nicht den regulären AMNOG-Prozess durchlaufen. Denn die EMA hat vor Gewährung des Orphan Drug-Status bereits eine Zusatznutzen-Bewertung vorgenommen. In ihrer Methodik ist sie auf die Besonderheiten von Orphan Drugs zugeschnitten.

GKV-FinStG: Bremse für Innovation

Nicht so das AMNOG: „Aufgrund der kleinen Patientenpopulationen, der Schwere der Erkrankungen und da Kinder und Jugendliche überproportional von seltenen Erkrankungen betroffen sind, können Orphan Drugs nicht immer die Anforderungen an die Nutzenbewertung, die für häufigere Erkrankungen entwickelt wurden, erfüllen“, schreibt die ATSE. Mit dem GKV-FinStG wurde die Umsatzschwelle, ab der diese Medikamente durch das Standard-Bewertungsverfahren müssen, von 50 Millionen auf 30 Millionen Euro herabgesenkt – mehr Präparate sind also betroffen als bisher. Der Verband der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa) fürchtet, dass das „für viele Orphan Drugs zu einer unüberwindbaren Hürde“ wird – schlicht, weil nicht alle geforderten Daten generiert werden können. „Viele Orphan Drugs, auch solche, die bereits in der Versorgung angekommen sind, laufen damit Gefahr, ihren Zusatznutzen gemäß der strikten AMNOG-Methodik für Non-Orphan Produkte nicht belegen zu können“, erklärt der vfa. 

GKV-FinStG: Bremse für Innovation
GKV-FinStG: Bremse für Innovation. Foto: ©iStock.com/AndreyPopov

Laut ATSE erhalten Orphan Drugs häufig einen „nicht quantifizierbaren“ Zusatznutzen. Seit dem GKV-FinStG bedeutet das: Der Erstattungsbetrag für das neue Arzneimittel darf in vielen Fällen nicht zu höheren Jahrestherapiekosten führen als die zweckmäßige Vergleichstherapie. „Hierbei wird ignoriert, dass mehrheitlich […] das Orphan Drug die erste wirksame Therapie für die Patientinnen und Patienten ist“, sagt die ATSE. „Wenn ein Arzneimittel, dem ein Zusatznutzen zugesprochen wurde, nicht mehr kosten darf als eine bestmögliche unterstützende Pflege der Patientinnen und Patienten, fällt der Erstattungsbetrag unter ein nutzenadäquates Niveau.“ Mögliche Folge: Marktaustritt – zu Lasten der Patient:innen. Schon heute sind immer mehr Arzneimittel nicht in Deutschland verfügbar – als Folge des GKV-FinStG (s. Pharma Fakten). Der vfa ergänzt, dass zudem „ein wichtiger wirtschaftlicher Anreiz“ entfällt, um „in Forschung und Entwicklung von Arzneimitteln für kleine Patientengruppen mit seltenen Erkrankungen zu investieren und die Medikamente schnell für die Patientenversorgung in Deutschland zur Verfügung zu stellen“. 

Wird auch Europa die Forschung für seltene Erkrankungen hemmen?

Die Situation auf Ebene der Europäischen Union (EU) sieht nicht besser aus. Wird Realität, was die EU-Kommission momentan mit dem „EU-Pharma-Paket“ plant, setzt sie die Fortschritte der vergangenen 2 Jahrzehnte aufs Spiel: Seit dem Jahr 2000 bietet eine Verordnung wirtschaftliche Anreize für die Forschung und Entwicklung – inzwischen sind über 200 Orphan Drugs zugelassen worden. Eine Analyse der Beratungsfirma Dolon kommt zu dem Ergebnis, dass mehr als die Hälfte der zwischen 2000 und 2017 entwickelten Präparate ohne diese Verordnung nicht kostendeckend gewesen wäre – das zeigt, wie wichtig es ist, dass die Politik für angemessene Rahmenbedingungen sorgt, damit auch Menschen mit seltenen Erkrankungen vom medizinischen Fortschritt profitieren können.

Wird auch Europa die Forschung für seltene Erkrankungen hemmen?
„EU-Pharma-Paket“: Fortschritte der vergangenen 2 Jahrzehnte aufs Spiel setzen. Foto: ©iStock.com/Andrii Yalanskyi

Mit dem EU-Pharma-Paket zielt die EU-Kommission auf veränderte Schutzrechte ab und plant unter anderem, die garantierte Marktexklusivität für Orphan Drugs zu kürzen. In einem vom europäischen Pharmaverband EFPIA beauftragten Gutachten stellt Dolon fest: „Die von der Kommission vorgeschlagenen regulatorischen Änderungen würden die Zahl der für Europa erwarteten Neueinführungen von Orphan Drugs um 12 Prozent reduzieren – das entspricht einem ‚Verlust’ von 45 Präparaten zwischen 2020 und 2035.“ Das würde „rund 1,5 Millionen europäischen Patient:innen mit seltenen Erkrankungen einer neuartigen Therapieoption berauben“. Und der Kontinent ließe sich F&E-Investitionen in Höhe von circa 4,5 Milliarden Euro entgehen, heißt es. Diese Ergebnisse stünden „im Kontrast zu den Zielen der Kommission, Therapieoptionen für Menschen mit seltenen Erkrankungen zu fördern – und im Kontrast zu den Bestrebungen der EU, ein führendes Zentrum der Industrie zu bleiben“, findet Dolon. 

EFPIA-Generaldirektorin Nathalie Moll appelliert für eine „Denkpause“. „Wir sind gemeinsam zu weitgekommen, um den Fortschritt für die Patient:innen in Gefahr zu bringen.“ Die ATSE sieht die Versorgung der betroffenen Menschen „aktuell und in Zukunft in einem Spannungsfeld“: Weil Orphan Drugs „Gegenstand zahlreicher Regulierungen sowohl national […] als auch auf EU-Ebene“ sind, führe das insgesamt „zu enormen Unsicherheiten für die F&E“ mit „unbekannten Auswirkungen auf die Versorgung.“

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