Sechs Pharmaunternehmen engagieren sich in einer Arbeitsgemeinschaft für bessere Rahmenbedingungen zur Erforschung und Entwicklung von Orphan Drugs. Foto: ©iStock.com/gorodenkoff
Sechs Pharmaunternehmen engagieren sich in einer Arbeitsgemeinschaft für bessere Rahmenbedingungen zur Erforschung und Entwicklung von Orphan Drugs. Foto: ©iStock.com/gorodenkoff

Menschen mit seltenen Erkrankungen: Setzt die Politik ihre Arzneimittelversorgung aufs Spiel?

Die Erforschung und Entwicklung von Arzneimitteln zur Behandlung von seltenen Erkrankungen ist alles andere als ein Selbstläufer. Die Herausforderungen sind groß – in wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Hinsicht. Trotzdem gelingt es den Pharmaunternehmen immer mehr Medikamente in die Versorgung zu bringen. Die Politik hat wichtige und richtige Anreize gesetzt, um das möglich zu machen. Das könnte sich nun ändern, fürchtet die ATSE – Arbeitsgemeinschaft Therapie Seltene Erkrankungen, in der sechs forschende Pharmaunternehmen zusammengeschlossen sind.

Vor dem Jahr 2000 gab es nur sehr wenige Arzneimittel, die eine Zulassung zur Behandlung einer seltenen Erkrankung erhielten. Die im selben Jahr eingeführte europäische Orphan Drug-Verordnung änderte die Situation: Sie setzte bestimmte wirtschaftliche Anreize und sorgte so für einen Schub in Forschung und Entwicklung. Seit 2000 sind rund 200 Orphan Drugs, Arzneimittel zur Behandlung seltener Erkrankungen, zugelassen worden (Quelle: vfa). Heute kommt fast jedes Jahr eine zweistellige Zahl neuer Medikamente hinzu. Das ist wichtig – denn es gibt mehr als 7.000 unterschiedliche seltene Erkrankungen und aktuell für weniger als 10 Prozent von ihnen eine zugelassene Therapieoption. Es ist noch viel zu tun. 

Orphan Drugs: Die Rahmenbedingungen sind das A und O

Orphan Drugs: Die Rahmenbedingungen sind das A und O
Seltene Erkrankung: max. 5 von 10.000 Personen sind betroffen. Foto: ©iStock.com/nambitomo

Damit die EU-Verordnung greift und ein Medikament den Orphan Drug-Status erhält, müssen einige Kriterien erfüllt sein:

  • Die jeweilige Erkrankung ist selten – d.h. laut EU-Definition für seltene Erkrankungen, dass maximal 5 von 10.000 Personen betroffen sind.
  • Die Krankheit muss zudem lebensbedrohlich sein oder zu chronischer Invalidität führen.
  • Und: Der Hersteller muss gegenüber der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) nachweisen, dass es noch keine zufriedenstellende Therapie für die Behandlung des Leidens gibt oder dass sein Arzneimittel für die Patient:innen einen deutlichen Mehrwert („erheblichen Nutzen“) hat. 

Im Vergleich zu häufigen Erkrankungen wie Diabetes oder Hypertonie (Bluthochdruck) stehen Forschende bei der Vorbereitung und Durchführung von Studien zur Behandlung von seltenen Erkrankungen vor ganz besonderen Herausforderungen. Das fängt schon bei der Generierung von Daten an: Meist ist das Wissen zu der jeweiligen Erkrankung sehr begrenzt; die Patientenpopulationen sind klein und heterogen sowie räumlich oft weit verteilt. Der Blick in die Vergangenheit zeigt: Wir brauchen an diese Situation angepasste Rahmenbedingungen und Verfahren, damit Menschen mit seltenen Erkrankungen am medizinischen Fortschritt teilhaben können.

Weil das die deutsche Politik erkannt hat, haben die Patient:innen in keinem anderen europäischen Land so schnell und umfassend Zugang zu neuen Orphan Drugs wie hier: In dem im Jahr 2011 eingeführten Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) wurde unter anderem geregelt, dass im hiesigen Arzneimittelbewertungsverfahren der Zusatznutzen von Orphan Drugs bis zu einer Umsatzschwelle von 50 Millionen Euro durch die vorangegangene europäische EMA-Zulassung bereits als belegt gilt. Das ist sachlich gut begründet: Der Gewährung des Orphan Drug-Status durch die EMA liegt nämlich schon eine Zusatznutzen-Bewertung zugrunde – anders als der deutsche AMNOG-Prozess ist sie in ihrer Methodik speziell auf die Besonderheiten von Orphan Drugs zugeschnitten. 

Orphan Drugs: Wird Innovationen der Hahn abgedreht?

ATSE-Logo
ATSE-Logo. Foto: ATSE

Nun hat die Politik im vergangenen Jahr das „GKV-Finanzstabilisierungsgesetz“ beschlossen. Durch die darin enthaltenen Regelungen würde sich die „bisherige Förderung von Orphan Drugs“ in „eine Benachteiligung verkehren“ – die „Vorreiterrolle Deutschlands beim Zugang zu Orphan Drugs in Europa“ stehe „auf dem Spiel“, kritisieren die Firmen Alexion, BioMarin, Bristol Myers Squibb, Chiesi, Takeda und Vertex in einer Stellungnahme. Schon vor einigen Jahren haben sich die sechs Unternehmen zur „Arbeitsgemeinschaft Therapie Seltene Erkrankungen (ATSE)“ zusammengeschlossen. Gemeinsam wollen sie sich für bessere Rahmenbedingungen bei der Erforschung und Entwicklung von Arzneimitteln gegen seltene Erkrankungen einsetzen und die Versorgungssituation der Patient:innen in Deutschland verbessern. 

Das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz sehen die Unternehmen als Hemmschuh für Orphan Drugs. Darin ist unter anderem festgelegt, dass die Umsatzschwelle, ab der Orphan Drugs die reguläre Nutzenbewertung des AMNOG durchlaufen müssen, von 50 Millionen Euro auf 30 Millionen Euro herabgesetzt wird. Dadurch werden mehr Orphan Drugs früher die reguläre Nutzenbewertung des AMNOG durchlaufen. In der Folge sei zu befürchten, dass viele Medikamente aufgrund einer für Orphan Drugs ungeeigneten Bewertungsmethodik im AMNOG ohne Anerkennung ihres Zusatznutzens bleiben – keine gute Basis für die darauffolgenden Preisverhandlungen der Arzneimittelhersteller mit den Krankenkassen. Die Unternehmen sehen darin eine Gefahr für die Versorgungslage in Deutschland, da Unternehmen aus wirtschaftlichen Gründen zu Marktrücknahmen gezwungen sein könnten.

ATSE: Aufklären, Erklären, Dialog und Austausch

ATSE: Aufklären, Erklären, Dialog und Austausch
Wirtschaftliche Anreize für Forschung und neue Therapien. Foto: ©iStock.com/gorodenkoff

Das zeigt, welche Tragweite politische Entscheidungen haben können. Es gilt – auch für die ATSE – unermüdlich über die Besonderheiten von Orphan Drugs aufzuklären, Missverständnisse und Fehlinformationen zu korrigieren und politische Handlungsempfehlungen zu entwerfen, findet die ATSE. Sie setzt dabei auf Dialog und Austausch. Jedes Jahr organisiert die Arbeitsgemeinschaft eine Reihe von Veranstaltungen mit Gästen aus der Politik, der Selbstverwaltung, von Verbänden, aus der Ärzteschaft oder aus Patientenvertretungen: In einem Fachgespräch unter der Schirmherrschaft von MdB Prof. Dr. Andrew Ullmann, FDP-Bundestagsfraktion, ging es im vergangenen Jahr etwa um die drohenden Auswirkungen des GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes auf die Versorgung der Patient:innen. Zu wichtigen Themen veröffentlicht die ATSE zudem Positionspapiere. Das zeigt Erfolg: Durch Aufklärungsarbeit im politischen Prozess sei zum Beispiel erreicht worden, dass die Umsatzschwelle für Orphan Drugs nicht noch weiter, auf 20 Millionen Euro herabgesetzt wurde, wie ursprünglich im Gesetzentwurf geplant.

Der ATSE genügt das nicht – sie plädiert dafür, die im Rahmen des GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes verabschiedeten Regelungen zum Arzneimittelbewertungsverfahren im AMNOG gesondert und unabhängig von etwaigen, kurzfristig wirkenden Sparmaßnahmen mit allen beteiligten Akteur:innen des Gesundheitswesens erneut zu diskutieren. 

Seltene Erkrankungen: Mehr als 90 Prozent nicht kausal therapierbar

Tatsache ist: Trotz der medizinischen Fortschritte bleibt viel zu tun. Mehr als 90 Prozent der seltenen Erkrankungen sind noch nicht kausal behandelbar. Im Sinne der Patient:innen braucht es weiterhin wirtschaftliche Anreize, damit es den Firmen möglich ist, kontinuierlich in Forschung zu investieren und neue Therapien einzuführen. 

„Orphan Drugs sind oftmals die einzige Behandlungsmöglichkeit für Menschen mit seltenen Erkrankungen. Sie können erheblich zu einer Verbesserung der Lebensqualität der Patientinnen und Patienten beitragen. Sie wirken sich positiv auf den nachfolgenden Pflege- und Behandlungsaufwand der Betroffenen aus“, betont die ATSE in einer Broschüre. Der eindringliche Appell der sechs Firmen: Die Politik darf die Vorreiterrolle Deutschlands bei der Versorgung von Patient:innen mit Orphan Drugs nicht aufs Spiel setzen.

Weiterführende Links:

Website der ATSE

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