Es ist ein globales Wettrennen – eines der Art: Alle gegen alle. Alle Nationen, die sich Gedanken um ihre Zukunftsfähigkeit machen, haben eine Branche ganz besonders im Fokus: Biotechnologie und Pharma. Sie zu fördern gilt mit Recht als „chic“; kein Wunder: Wie in kaum einem anderen Industriezweig geht es um neue Technologien, um milliardenschwere Innovationen, die weit über die Branche hinaus reichen, um hochwertige und gut bezahlte Arbeitsplätze – und damit letztlich um Wohlstand. Und schließlich geht um einen Wissenschaftsstandort von Weltniveau.
Industrielle Gesundheitswirtschaft: Eine Branche mit „Nebenwirkungen“
Um auf diese „Nebenwirkungen” der industriellen Gesundheitswirtschaft (iGW) aufmerksam zu machen, die weit über die Frage hinausgehen, wie erfolgreich es in den kommenden Jahren gelingen wird, Herausforderungen wie Krebs, Alzheimer oder Diabetes zu behandeln, haben verschiedene Pharmaunternehmen die Veranstaltungsreihe „Gesunde Industriepolitik – Fortschrittsdialog“ ins Leben gerufen. Mit dabei: Amgen, Bayer, Boehringer Ingelheim, Gilead Sciences, GlaxoSmithKline (GSK), Novartis und Roche. Ebenfalls dabei: Die Industriegewerkschaft IGBCE. Das Interesse an dem Thema hatte ihr Chef, Michael Vassiliadis, auf der Auftaktveranstaltung im Februar 2023 klar umrissen. Für ihn steht die Branche für eine „Premium-Variante von guter Arbeit“: „Sehr gut bezahlte, qualifizierte Leute. Gute Arbeitsbedingungen, gute Unternehmenskultur, funktionierende Mitbestimmung.“ Der Gewerkschaftler hatte schon damals klar gemacht: Er hätte gern mehr von solchen Arbeitsplätzen in Deutschland. Schirmherrin der Initiative ist die SPD-Bundestagsabgeordnete und Wirtschaftspolitikerin Gabriele Katzmarek.
Das Gute ist: Deutschland ist eigentlich gut aufgestellt. Die industrielle Gesundheitswirtschaft trägt mit jährlich 190 Milliarden Euro zum Wohlstand des Landes bei und sichert rund 1,1 Millionen Arbeitsplätze. Aber die Konkurrenz ist groß und wird größer: „Während zwischen 1990 und 2019 in den USA die Investitionen in Forschung und Entwicklung in der Pharmabranche insgesamt um das 8-Fache anstiegen, stiegen sie in Europa nur um das 4,5-Fache“, hieß es bei der Abschlussveranstaltung. Soll heißen: Die Wertschöpfung wird im Vergleich zu anderen Regionen der Welt weiter sinken – Deutschland droht, ins Hintertreffen zu geraten. Unlösbar ist das Problem nicht: Viele der Probleme sind hausgemacht.
Forschung und Entwicklung: Eine der „großen Fragen der Zukunft“
Schirmherrin Katzmarek brachte das Thema auf den Punkt: Für sie ist die Förderung von Forschung und Entwicklung eine „der zentralen Fragen der Zukunft und für den Standort Deutschland und Europa. Das Potenzial ist groß.“ Gleichzeitig sehe man, dass „wir den Anschluss an die Weltspitze verlieren – oder bereits verloren haben“. Als Ziel formulierte sie: „Wir müssen wieder an die Weltspitze aufschließen. Ich glaube, das geht.“ Vom Schlechtreden des Standortes Deutschland hält sie wenig. „Diese Industrie ist eine Leitindustrie. So haben wir das auch in den Koalitionsvertrag reingeschrieben.“
Dr. Christian Macher, Geschäftsführer von Gilead Sciences erinnerte noch einmal an die Pandemie: „Dass wir diese Krise so schnell überwinden konnten, ist das Ergebnis von großem Forschergeist, Mut und Bereitschaft zur Kooperation.“ Aber auch von enger Zusammenarbeit mit der Politik, als es darum ging, Prozesse zu beschleunigen und Unmögliches möglich zu machen. „Das hat uns gezeigt: Wenn der politische Wille da ist, können wir gemeinsam Großes leisten.“ Doch diese Zusammenarbeit, das machte Macher auch klar, hat im vergangenen Jahr arg gelitten; der Geschäftsführer spielte damit auf das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz an. Das habe zu „dramatischen Auswirkungen auf die Rahmenbedingungen geführt, die sich negativ auf den medizinischen Fortschritt für die Patientinnen und Patienten auswirkt.“ Das Gesetz verlangt von der Pharmaindustrie weitere Preisabschläge in Milliardenhöhe. Es trägt bereits jetzt dazu bei, dass innovative Arzneimittel nicht oder erst später in Deutschland eingeführt werden.
Positionspapier: Die Gesundheitswirtschaft als Leitindustrie
Aber auch Macher will nach vorne schauen. Und stellte deshalb das Positionspapier vor, dass die Initiative entwickelt hat. Die wesentlichen Punkte sind:
- Entwicklung und Umsetzung einer ganzheitlichen Strategie, die die iGW als Leitindustrie versteht: „Dabei sind verlässliche Rahmenbedingungen für den Forschungs-, Produktions- und Innovationsstandort unerlässlich.“
- Ohne Köpfe geht es nicht – ohne Fachkräfte bekommt der Innovationsmotor Zündaussetzer. Deutschland brauche Investitionen in die Fachkräfteentwicklung, -gewinnung und -bindung.
- Ohne Gesundheitsdaten geht es auch nicht: Es müssen dringend „einheitliche und sichere Standards für Qualität und Nutzung von Daten sowie ein interoperables Datenökosystem für eine bedarfsgerechte Patientenversorgung geschaffen werden und ein gleichberechtigter Zugang universitärer, außeruniversitärer und privatwirtschaftlicher Akteure zu den Daten“ geschaffen werden.
- Um im internationalen Wettbewerb zu bestehen, „sind zügige Planungsverfahren, weniger Bürokratie, die Harmonisierung von Regelungen und eine bessere personelle Ausstattung von Aufsichtsbehörden wichtig.“
- Und schließlich sind für eine hochinnovative Leitindustrie zuverlässige Rahmenbedingungen geradezu Lebenselixir. Dazu gehören „berechenbare, innovations- und patientenorientierte Rahmenbedingungen“, ein gestärkter Patentschutz, beschleunigte Zulassungs- und Marktzugangsverfahren sowie harmonisierte Kosten-Nutzen-Verfahren zur Preisfindung (sog. HTA-Prozesse), sodass Innovationen honoriert werden.
Hört man sich in Berlin um, gibt es zu der Einschätzung der Bedeutung der forschenden Arzneimittelindustrie kaum eine 2. Meinung. Sie zu fördern gilt auch als Rezept, um die Transformation des Wirtschaftsstandortes voranzutreiben. FDP-Politiker Lars Lindemann erinnerte in Anspielung auf Robert Habeck daran, dass „es einen Bundeswirtschaftsminister gibt, der sich zu einem Bundesgesundheitswirtschaftsminister erklärt hat.“ Wo der Dialog jetzt fortgesetzt werden müsse? „Das Thema gehört jetzt ins Bundeskanzleramt. Dort muss nun das i-Tüpfelchen drauf gemacht werden.“ Soll heißen: Aus dem Fortschrittsdialog soll Konkretes erwachsen. Oder, um es mit den Worten von Dr. Jacqueline Schönfelder zu sagen, die das große Impfstoffwerk von GSK in Dresden leitet: „Wir müssen von diesem theoretischen, von diesem ´man könnte` und ´man sollte` wirklich ins ´Doing´ kommen.“
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