Deutschlands Wirtschaft steht vor einer Mammutaufgabe; sie muss sich ein Stück weit neu erfinden. Dafür verantwortlich sind vor allem die vier großen Herausforderungen unserer Zeit: die Digitalisierung, die Dekarbonisierung, die Demografie und die Debatten über eine zumindest teilweise De-Globalisierung. Diese 4 D´s gilt es zu gestalten, wenn die Transformation gelingen soll. Deutschlands Pharmamanager:innen hätten da eine Idee, wie das funktionieren könnte. Denn das Land ist ein starker Standort für Biotechnologie – den Beweis dafür hat es in der Pandemie gerade erst eindrucksvoll erbracht.
Aber: Die Konkurrenz schläft nicht; der globale Standortwettbewerb um diese boomende Zukunftsbranche ist groß. Deutschland droht deshalb den Anschluss zu verlieren, wenn nicht schnellstens ein paar Weichen gestellt werden. Diese Weichen waren Thema bei der Auftaktveranstaltung von „Gesunde Industriepolitik: Fortschrittsdialog“. Das Ziel: „Konkret zeigen, was diese Industrie in Deutschland leistet und was sie benötigt, um weiter Teil der Weltspitze in der Biotechnologie zu sein.“ Mit dabei sind die forschenden Unternehmen Amgen, Bayer, Gilead, GSK, Novartis, Roche und Boehringer Ingelheim. Schirmherrin ist die SPD-Bundestagsabgeordnete und Wirtschaftspolitikerin Gabriele Katzmarek. Mit dabei ist auch die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie Energie (IGBCE). Im Hinblick auf die Biotechnologie sagt ihr Chef, Michael Vassiliadis: „Wir haben es hier. Wir können es hier. Jetzt müssen wir entscheiden, ob wie es wollen.“
Pharmaunternehmen: „Die Premiumvariante von guter Arbeit.“
Über das „Ob“ gab es auf der Veranstaltung keine 2. Meinung. Der Gewerkschaftschef macht keinen Hehl daraus, dass er von Arbeitsplätzen, wie sie die pharmazeutische Industrie anbietet, gerne mehr hätte: „Sehr gut bezahlte, qualifizierte Leute. Gute Arbeitsbedingungen, gute Unternehmenskultur, funktionierende Mitbestimmung. Kurz: Die Premium-Variante von guter Arbeit.“ Auch SPD-Frau Katzmarek bekräftigt: „Die Industrielle Gesundheitswirtschaft (IGW) spielt mit 85 Milliarden Euro Bruttowertschöpfung und einer Million Beschäftigte eine große Rolle. Sie ist eine der tragenden Säulen.“ Sie will die IGW stärken und verweist darauf, dass Bundeskanzler Olaf Scholz „das neue Deutschlandtempo“ auch für die Biotechnologie ausgerufen hat. Das sieht die Wirtschaftspolitikerin als „Auftrag an die Politik, den Standort schneller, besser und stärker zu machen.“
Die anwesenden Pharmamanager machten deutlich: Das ist auch dringend nötig. Im Hinblick auf Zell- und Gentherapien erklärte Professor Hagen Pfundner von Roche: „95 Prozent der gesamten klinischen Forschung finden in den USA und Asien statt und weniger als 4 Prozent bei uns. Der Zug ist abgefahren.“ Sein Ziel ist es, mit der Politik die industriepolitischen Rahmenbedingungen auszuhandeln, damit die Spitzenforschung in Deutschland bleibt. Das Ende vergangenen Jahres auf den Weg gebrachte GKV-Finanzstabilisierungsgesetz, so Pfundner, gehört nicht in diese Kategorie: „Wir reden jetzt vom neuen Deutschland-Tempo. Dieses Gesetz ist aber eine Deutschland-Bremse. Wenn man einer Industrie die Liquidität entzieht, darf man sich nicht wundern, dass es am Ende schwerer wird, Innovationen zu erforschen.“ Prof. Hagen Pfundner setzt darauf, dass durch den Fortschrittsdialog klar wird, dass die Pharmaunternehmen für eine „resiliente Industrie“ stehen, die auf die Sozialsysteme stabilisierend wirkt. „Wir haben Null-Komma-Null Interesse, die sozialen Systeme zu überfordern. Wir leben von ihnen.“ Und ergänzt: „Unser Ziel ist es diesen Forschungs- und Produktionsstandort attraktiv zu halten, Beschäftigung auszubauen, Versorgung sicherzustellen und das sozial, ökonomisch und ökologisch nachhaltig.“
Die Pharmaindustrie – eine Leitindustrie
Wie kann das gelingen? Heinrich Moisa, Leiter von Novartis Deutschland, fordert ein Verständnis, wonach Gesundheitspolitik auch Wirtschaftspolitik und damit Wohlstandspolitik ist. „Sie ist eine Industrie der Zukunft. Wir brauchen das Bekenntnis, dass die Pharmaindustrie eine Leitindustrie ist.“ In Baden-Württemberg wird vorgemacht, wie das funktionieren kann; dort wird Gesundheitspolitik über die Ressorts Gesundheit, Wirtschaft, Wissenschaft und Inneres gedacht und umgesetzt (s. „Gesundheit in Deutschland: Falsch organisiert“). Dr. Daniel Steiners, Geschäftsführer bei Bayer, ergänzt: „Wir müssen Gesundheit holistisch diskutieren. Viele sehen uns als Kostenfaktor. Wir sehen uns eher als Lösungsanbieter, etwa, wenn es gelingt, durch ein Arzneimittel zu verhindern, dass Menschen ins Krankenhaus müssen.“ Deutschland soll, so sagt er, wieder eine der Apotheken der Welt werden. „Es ist ja so: Wir erforschen etwas – unter hohem Risikoeinsatz. Wir produzieren es dann und haben über einen begrenzten Zeitraum einen Patentschutz. Der läuft irgendwann aus. Dann ist all das, was entwickelt wurde, Teil des Welterbes der Pharmazie.“ Das Geld, was man damit verdient habe, „stecken wir in die nächste Generation von Innovationen.“ Das Geschäftsmodell der forschenden Pharmaindustrie auf wenige Worte reduziert – Steiners betrachtet das als ein „Ökosystem für Innovation.“
Eine Debatte über das deutsche Gesundheitssystem, ohne dass die Datennutzung ein Thema wird? Das ging auch auf dem Fortschrittsdialog nicht. Noch einmal Dr. Steiners: „Der Rohstoff unserer Zeit sind Daten. Wir brauchen sie, um bessere klinische Forschung machen zu können.“ Der Industrie gehe es nicht um die konkreten Daten von konkreten Patient:innen. „Was wir brauchen, sind die anonymisierten Daten, damit wir Muster erkennen, um bessere Therapien entwickeln zu können.“ Schirmherrin Gabriele Katzmarek sagt: „Wir könnten in der Erkennung von bestimmten Erkrankungen heute schon viel weiter sein, wenn wir eine gute Datenlage hätten – und damit den Betroffenen viel Leid ersparen.“ Auf der Agenda von Bundesgesundheitsminister Professor Dr. Karl Lauterbach steht in diesem Jahr ein Gesundheitsdatennutzungsgesetz. Es soll die Datennutzung für die wissenschaftliche Auswertung gezielt regeln.
Manfred Heinzer, Geschäftsführer von Amgen in Deutschland, bekräftigte, dass die jüngste Gesetzgebung die Situation für die Biotechnologiebranche verschlechtert hat. Auf Pessimismus will er sich trotzdem nicht einlassen. „Wenn wir die Transformation meistern wollen, bracht es eine starke Innovationsbranche. Wir stehen bereit, um gemeinsam mehr Fortschritt zu wagen.“ Dazu müssten sehr bald innovationshinderliche Maßnahmen identifiziert und rückgängig gemacht werden. „Wir brauchen eine integrierte Wirtschafts-, Gesundheits- und Innovationspolitik.“ Vor diesem Hintergrund bewertet Heinzer Forschungsförderung von Hightech und Innovation auf der einen und Spargesetze, die die Rahmenbedingungen verschlechtern, auf der anderen Seite als kontraproduktiv.
Wird die Biotechnologie in Deutschland als Zukunftsbranche künftig eine größere Rolle spielen? Der Aufschlag ist gemacht. Fortsetzung folgt.
Link: Gesunde Industriepolitik: Fortschrittsdialog. Die nächste Veranstaltung findet am 7. März 2023 (17.00 Uhr) im Deutschen Museum in München statt.
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