Gesundheit in Deutschland: Falsch organisiert

Die Gesundheitswirtschaft ist ein wichtiges Standbein für Innovation und Wohlstand in Deutschland. Umso befremdlicher ist es, dass das keine Rolle spielt, wenn zugunsten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) Spargesetze beschlossen werden. Was in der einen Tasche gespart wird, reißt Löcher in der anderen: Auf Bundesebene organisiert Deutschland die Gesundheit falsch.

Das im Oktober 2022 beschlossene GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG) ist ein Kostendämpfungsgesetz klassischer Bauart, bei dem alle ranmüssen: die Beitrags- und Steuerzahler:innen, die Ärzte- und Apothekerschaft, die pharmazeutische Industrie.  Aus Sicht der Unternehmen und ihrer Verbände hat es einen innovationsfeindlichen Charakter – weil es neuen Arzneimitteln in vielen Fällen ihren Innovationscharakter abspricht und sie somit preislich abwertet. Und Kombinationstherapien, ohne die beispielsweise in der modernen Krebstherapie fast gar nichts mehr geht, werden mit zusätzlichen, pauschalen Rabatten belegt: Methode Rasenmäher. Gesundheitsminister Professor Karl Lauterbach sieht das naturgemäß anders; im Bundestag sagte er: „Auch in Gefahr und Wandel, auf die Gesundheitsversorgung kann man sich verlassen.“ Der Ärger, der ihm mit seinem Gesetz fast aus dem gesamten Gesundheitssystem entgegenschlug, lässt erahnen: Diese Meinung hat er relativ exklusiv. Nicht einmal die GKV, für die dieses Gesetz gemacht wurde, findet es gelungen.

Pharmazeutische Produkte erhalten Menschen gesund oder tragen dazu bei, dass sie es werden. Foto: ©iStock.com/Inside Creative House

Das, was sich die Ampelregierung im Koalitionsvertrag auf die Fahnen geschrieben hat, findet sich im GKV-FinStG nicht wieder. Die Lehren aus der Pandemie, die gezeigt hat, wie sehr eine Biotechnologie mit Weltformat regelrecht eine Lebensversicherung sein kann, sind schon wieder verdrängt. Dabei wirken pharmazeutische Unternehmen doppelt: Ihre Produkte in Form von Arzneimitteln und Impfstoffen tragen dazu bei, dass Menschen gesund bleiben können oder es wieder werden. Als wirtschaftliche Einheit stehen sie für eine hochinnovative Branche, die wie kaum eine andere in Fortschritt investiert, qualifizierte Arbeitsplätze schafft, den Wirtschafts- und Wissenschaftsstandort stärkt und krisenfest ist. 

Das GKV-FinStG ist Beleg für ein altes Problem: Gesundheitsausgaben gelten als etwas Schlechtes, als Kosten. Dass sie Investitionen in die Zukunft sind, ist höchstens Thema bei Sonntagsreden. In der Bundespolitik zumindest lässt sich von dieser Sicht auf die Dinge nicht viel erkennen. Die durchaus sinnvolle Idee, die Branche als Schlüsselindustrie für Innovation, Wachstum, Produktivität und Wohlstand zu begreifen – und mit einer entsprechenden Politik zu flankieren – wird mit dem jüngsten Spargesetz konterkariert.

Gesundheitswirtschaft: Eine Branche, die Wohlstand schafft

Gibt man im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) den Begriff „Gesundheitswirtschaft“ ein, sieht man lächelnde Gesichter. Dort wird „Gesundheit“ offenbar weniger als etwas gesehen, das viel kostet, sondern viel bringt. Im Herbst hatte das WifOR-Institut die Daten der Gesundheitswirtschaftlichen Gesamtrechnung für das Jahr 2021 vorgestellt. Fast 400 Milliarden Euro an Bruttowertschöpfung bringt sie auf die Waage – oder rund 12 Prozent der gesamten Bruttowertschöpfung des Landes (s. Grafik). Es ist das, was die Menschen erwirtschaften, die in Arztpraxen, Apotheken, Krankenhäusern, in der Pflege oder in der Industrie arbeiten. 

Die industrielle Gesundheitswirtschaft (iGW) macht mit rund 85 Milliarden Euro rund ein Fünftel der gesamten Gesundheitswirtschaft aus, beschäftigt rund 1 Million Menschen in Unternehmen, die Arzneimittel, Impfstoffe, Diagnostika und Medizintechnik erforschen und vertreiben, Labore unterhalten oder Gesundheitsapps entwickeln. Die iGW war in den vergangenen Jahren gekennzeichnet durch ein kontinuierliches Wachstum.

Doch wie passt das zusammen? Finanzielle Daumenschrauben für eine Industrie, die wie keine andere Fortschrittstreiber für den Wirtschafts- und Wissenschaftsstandort Deutschland sein kann und will? Die Antwort ist: Es passt nicht. Gesundheit wird nicht in ihrer ganzen Dimension gedacht. Andere machen das anders. Baden-Württemberg zum Beispiel.

Baden-Württemberg setzt auf Gesundheit

W. Kretschmann. Foto: Staatsministerium Baden-Württemberg

Dort hat Ministerpräsident Winfried Kretschmann 2018 das „Forum Gesundheitsstandort Baden-Württemberg“ ins Leben gerufen. Das Ziel: die enge Vernetzung aller Akteur:innen aus Versorgung, Wissenschaft und Wirtschaft. „Besonders wichtig dabei ist die Gesundheitsdatennutzung, damit auch wirklich alle kooperieren können“, so der Grünen-Politiker. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass erst die enge Kooperation über Sektoren-, Unternehmens- und Institutsgrenzen hinweg sicherstellt, dass Innovationen auch bei den Patient:innen ankommen – seien es neue Arzneimittel, Bildgebungsverfahren für die Diagnose oder Operationsmethoden. 

Das Forum wird aus Kretschmanns Staatsministerium heraus über eine Arbeitsgruppe gesteuert, in der die Ministerien für Wissenschaft, für Gesundheit, für Inneres und für Wirtschaft ihre Arbeit koordinieren. Eine eigene Landesgesellschaft, die BIOPRO, will neben der Geschäftsstellenfunktion für das Forum, „die biologische und digitale Transformation voranbringen.“ Sie berät und führt zusammen, was an einen Tisch sollte. Die Organisationsstruktur des Forums soll sicherstellen, dass die Ziele der Regierung, die die iGW neben der Automobilwirtschaft als eine tragende Säule aufbauen will, nicht durch Einzelmaßnahmen unterlaufen werden können. Eingebunden ist auch das Innenministerium, um eine sichere Datennutzung zu entwickeln und auszubauen (digital@bw). Nicht umsonst heißt das Motto: „Gemeinsam für gesünder.“ Eine ähnliche Initiative gibt es in Hessen.

Wolfgang Branoner, ehemaliger Berliner Wirtschaftssenator und heute Geschäftsführender Gesellschafter der Beratungsfirma SNPC
Wolfgang Branoner, Geschäftsführender Gesellschafter der Beratungsfirma SNPC. Foto: privat

Auf Bundesebene sucht man solche Strukturen vergebens. „Ein Anachronismus“, sagt Wolfgang Branoner, ehemaliger Berliner Wirtschaftssenator und heute Geschäftsführender Gesellschafter der Beratungsfirma SNPC. Er hatte schon vor Jahren ein „Gesundheitskabinett“ vorgeschlagen, in dem sich die involvierten Bundesministerien gemäß einer formulierten Strategie koordinieren. Das hätte vielleicht verhindert, dass in einem Ministerium ein Gesetz mit innovationsfeindlichem Charakter geschrieben wird, das nicht nur von der im Koalitionsvertrag verabredeten Strategie eklatant abweicht, sondern auch das Potenzial einer Zukunftsbranche par excellence empfindlich treffen kann. Trotz nicht wegzudiskutierenden Spardrucks: Es wäre wahrscheinlich ein besseres Gesetz herausgekommen.

In Baden-Württemberg setzt man gezielt auf Stärken. Laut Bericht des WifOR-Instituts trägt die industrielle Gesundheitswirtschaft mit 31,3 Prozent zur regionalen Gesundheitswirtschaft bei – Spitzenwert in Deutschland. „Das wird alles gemacht, damit wir mehr für unsere Patienten machen können“, sagt Ministerpräsident Kretschmann.

Weiterführende Links: 

Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz: Gesundheitswirtschaft. Fakten und Zahlen. Daten 2021.

Forum Gesundheitsstandort Baden-Württemberg (Youtube)

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