Gedankenspiel: Ein Krankheitserreger legt die Welt lahm, Menschen sterben, die Krankenhäuser am Limit, die Weltwirtschaft im Stillstand. Das Einzige, was jetzt hilft – wenn man die Menschen nicht nur einsperren will – ist die schnelle Entwicklung wirksamer und sicherer Arzneimittel und Impfstoffe. „Schnell“ ist hier das Schlüsselwort: Was eigentlich Jahre dauert, muss jetzt in Monaten gehen. Viel Fantasie braucht es für dieses Gedankenspiel nicht. Es ist alles gerade 2 Jahre her.
Aber die Bilder von Bergamo – große Hallen voller Särge, Militärfahrzeuge auf ansonsten leeren Straßen – sind schon wieder verdrängt. Die Versprechen, sich auf die nächste Pandemie vorzubereiten, sind verhallt. Von „pandemic preparedness“ hört man nur noch wenig.
Dabei dürfte allen klar sein: Vor allem mit Hilfe von Wissenschaft und Forschung lässt sich eine solche Gesundheitskrise in den Griff bekommen. Nur weil es in absoluter Rekordzeit gelungen ist, Impfstoffe und antivirale Arzneimittel zu entwickeln, konnte die Pandemie schnell eingedämmt werden. Ihnen verdanken wir ein Leben in Freiheit, obwohl die Pandemie noch nicht zu Ende ist. Und viele Menschen ihr Leben.
Der Nettoanteil innovativer Arzneimittel liegt bei rund 6 Prozent
Diese Erkenntnis fand sich im Kern im Koalitionsvertrag der Ampel wieder. Dort versprachen die Koalitionäre unter anderem „ein vorsorgendes, krisenfestes und modernes Gesundheitssystem, welches die Chancen biotechnologischer und medizinischer Verfahren nutzt, und das altersabhängige Erkrankungen sowie seltene oder armutsbedingte Krankheiten bekämpft.“ Der Koalitionsvertrag – er ist eine auf Papier festgehaltene Lernkurve. Herausgekommen ist das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG). Es tut so als ob die Arzneimittelausgaben eines der wesentlichen Probleme der GKV-Finanzen sind. Sind sie aber nicht.
Der Netto-Anteil an den patentgeschützten, weil innovativen Arzneimittel an den GKV-Gesamtausgaben dürfte ohne Berücksichtigung der Mehrwertsteuer und der Vertriebsmargen (Großhandel und Apotheken) eher bei 6-Prozent liegen (Pharma Fakten berichtete). Heißt: 94 Prozent der GKV-Ausgaben werden nicht für neue Arzneimittel ausgegeben. Dennoch hat das GKV-FinStG einen starken Fokus gerade auf diese – das Gesetz hat schlicht einen innovationsfeindlichen Charakter.
Neil Archer, General Manager beim forschenden Unternehmen Bristol Myers Squibb fasst es zusammen: „Lauterbachs Gesetz ist keine gute Nachricht, weder für die Innovationskraft noch für die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland. Vor allem drohen negative Folgen für die Versorgung von Patient:innen. Dies betrifft verschiedene Indikationsbereiche, darunter die moderne Krebsmedizin […]. Hier könnte durch die beschlossenen Regelungen der Zugang zu Innovationen in Zukunft massiv erschwert werden.“
Ein Stabilisierungsgesetz, das nicht stabilisiert
Die Vorwürfe gegen das Gesetz sind so lang, wie es Mitspieler im Gesundheitswesen gibt. Nur mit Mühe wird es überhaupt seinem Namen gerecht, denn zur Stabilisierung wird es höchstens im kommenden Jahr beitragen. Dann steht die GKV vor dem nächsten Finanzloch. Das wissen alle.
Fatal sind aus der Sicht der Industrie die Änderungen im Rahmen des Zusatznutzensystems AMNOG. Seit 2011 in Deutschland die Grundlage, wie Arzneimittel in ihrem Innovationswert bewertet und letztlich erstattet werden, hat sich dieses Gesetz trotz einiger Verwerfungen bewährt. Im Koalitionsvertrag heißt es dazu: „Das Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes (AMNOG) entwickeln wir weiter.“ Nun wird es filetiert.
In seiner Rede vor dem Bundestag betonte Professor Lauterbach, dass es nun gelungen sei, dass Arzneimittel, die „keinen gesicherten oder nur einen sehr geringen Zusatznutzen bringen“, preislich so zu deckeln, dass sie nicht teurer sind als bereits vorhandene. Neu ist das aber nicht; es war im AMNOG schon immer die Regel. Das wirklich Neue am Lauterbachgesetz ist, dass auch bessere Therapien, sogenannte Schrittinnovationen – definiert als stetige Verbesserung von Arzneimitteln – nicht teurer sein dürfen.
Die Folgen dieser Regelung dürften dramatisch sein: Denn es hebelt den Grundgedanken des AMNOG aus, dass besseres auch besser bezahlt wird. Die Dachorganisation der medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) warnte deshalb, dass das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz zu eingeschränkter Verfügbarkeit wirksamer neuer Arzneimittel führen könnte. Bei vielen Neueinführungen wäre trotz Zusatznutzen kein höherer Preis durchsetzbar. Damit würde ein wesentlicher Anreiz zur Verfügbarkeit neuer Arzneimittel in Deutschland wegfallen.
GKV-Erstattungspreise sind Verhandlungslösung
Nur am Rande sei erwähnt, dass der Gesundheitsminister unterstellt, dass es die pharmazeutischen Unternehmer sind, die die Erstattungspreise festlegen. Die im Anschluss an das AMNOG-Verfahren festgesetzten Erstattungspreise sind aber immer eine Verhandlungslösung zwischen dem Spitzenverband der Krankenkassen und dem jeweiligen Pharmaunternehmen. Lauterbach wettert also gegen Preise, die das System ausgehandelt und die die Krankenkassen in der Verhandlung akzeptiert haben. Warum tut er das?
Das Gesetz ist auch ein massiver Eingriff in das Geschäftsmodell der pharmazeutischen Industrie, bei der die Einnahmen von heute die Arzneimittelinnovationen von morgen finanzieren. Nur eine wirtschaftlich erfolgreiche Industrie wird wissenschaftlich erfolgreich sein. Denn die Erforschung von Arzneimitteln gegen Krebs, Alzheimer, Diabetes und Co. ist wirtschaftlich riskant und teuer.
Auch von dem Gedanken, dass die forschende Pharmaindustrie eine Schlüsselindustrie sein könnte, die mehr noch als heute zum Wohlstand des Landes beitragen könnte, hat man sich mit diesem Gesetz offenbar verabschiedet. Denn andere Länder haben das Potenzial der Branche erkannt und fördern sie großzügig. Darauf hat unter anderem der Gesundheitsökonom Professor Jürgen Wasem mit Blick auf die USA hingewiesen: Wenn dort „Investitionen deutlich attraktiver werden, dann hat das auch Einfluss auf die Frage, ob man das Forschungsprogramm und den Produktionsprozess in Deutschland ansetzt oder doch lieber woanders.“ (Pharma-Fakten berichtete). Dann wird aus dem Finanzstabilisierungs- ein Standortgefährdungsgesetz.
Wenn alle dagegen sind, müssen wir ja etwas richtig gemacht haben – dieses Credo hört man öfter, wenn Abgeordnete ein umstrittenes Gesetz verteidigen. In diesem Fall gilt leider: Das Gesetz ist schlecht. Wie schlecht, werden wir wohl erst in ein paar Jahren sehen.
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