
Umsätze von Arzneimitteln kann man so oder so betrachten: Die Einnahmen, die Boehringer Ingelheim im ersten Halbjahr dieses Jahres mit seinem SGLT2-Hemmer zur Behandlung von Menschen mit Diabetes und Herzinsuffizienz erwirtschaftet hat, dürfte ein Krankenkassenfunktionär kritisch sehen. Aus seiner Sicht sind das Ausgaben – ein Arzneimittel als Kostentreiber.
Dr. Sabine Nikolaus hat eine andere Perspektive: Mit diesem Geld wurden in der gleichen Zeit rund 700.000 Diabetiker:innen behandelt.
SGLT-2-Hemmer sind Ausdruck davon, dass die Forschung erkannt hat, dass Diabetes eine systemische Erkrankung ist und entsprechend behandelt werden muss.
SGLT-2-Hemmer heben die Diabetestherapie auf eine neue Stufe; sie schützen Herz und Nieren gleich mit. Für die Patient:innen haben sie einen gewaltigen Zusatznutzen. Ein Arzneimittel mit dem Prädikat Lebensqualität und -perspektive.
Pharmaindustrie ist eine Schlüsselindustrie
In dem von Bundesgesundheitsminister Professor Dr. Karl Lauterbach vorgelegten Gesetzentwurf bekommen vor allem Arzneimittelinnovationen ihr Fett weg; es soll gerade da der Rotstift angesetzt werden. Ein Fehler, findet Dr. Nikolaus: „Rund 20 Millionen Euro investiert die Pharmaindustrie pro Tag in Forschung und Entwicklung und damit in Deutschlands Wohlstand – pro Jahr sind es 7,8 Milliarden Euro. Deutschland kann auf diese Wirtschafts- und Innovationskraft nicht verzichten.“ Ihr Fazit: „Deutschland braucht die pharmazeutische Industrie als Schlüsselindustrie.“
Mit einem Blick auf die Zahlen der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) begründet die Geschäftsführerin, warum sie die bei den Pharmaunternehmen einzusammelnden Milliardenbeträge für „überproportional“ hält. Schließlich mache der Anteil der Pharmaindustrie an den GKV-Gesamtausgaben lediglich 12 Prozent aus. „Schauen wir auf die Innovationen, sind es sogar nur 6 Prozent.“ Da von Kostentreibern zu reden, sei etwas „daneben“. Arzneimittel seien gar nicht die Verursacher der Krankenkassen-Finanzmisere; ihr Anteil an den Gesamtausgaben seit vielen Jahren stabil. Zudem leistet die Industrie seit Jahren erhebliche Entlastungszahlungen zugunsten der GKV. Zwischen den Jahren 2010 und 2020 waren es 72,3 Milliarden Euro.
Ausgeschrieben liest sich das so: 72.300.000.000 Euro – in Form von Abschlägen, Festbeträgen, Rabatten. Es ist Geld, was in den Budgets für Forschung und Entwicklung (F&E) fehlt. Neben einem erhöhten Herstellerrabatt will man in Berlin auch das Preismoratorium verlängern. Es bedeutet, dass Pharmaunternehmen ihre gestiegenen Kosten schon seit Jahren nicht weitergeben können. Im Hinblick auf Inflation und Energiepreiskrise sagt Dr. Nikolaus: „Das finde ich gerade in dieser Zeit empörend.“
GKV-Spargesetz: Angriff auf die Arzneimittelinnovationen
Was der Landesleiterin von Boehringer Ingelheim noch mehr als diese Zahlen auf den Magen schlägt, sind die geplanten Änderungen an den „Leitplanken“ des AMNOG-Verfahrens – ein seit über 10 Jahren in Deutschland geltendes Zusatznutzen-Bewertungssystem. Grob gesagt, geht es darum, dass ein neu eingeführtes Arzneimittel sich mit einer bereits etablierten Therapie vergleichen muss. Das Votum des Zusatznutzens ist dann Grundlage für die Preisverhandlungen.
- Stichwort Schrittinnovationen (Pharma Fakten berichtete): „Es ist vorgesehen, dass ein Arzneimittel, das geringfügig besser ist als die Vergleichstherapie, aber für Patient:innen einen großen Nutzen haben kann, weil es besser verträglich ist oder eine bisschen bessere Wirksamkeit hat, nicht mehr entsprechend honoriert wird.“ Die neue Regel sei dann: „Ein kleiner Zusatznutzen ist kein Zusatznutzen.“ Das bedeutet, dass pharmazeutische Unternehmer:innen bei einem graduell verbesserten Arzneimittel gegenüber einer patentgeschützten Vergleichstherapie keinen höheren Preis mehr durchsetzen können. Da müsse man sich „3-mal überlegen, ob es sich überhaupt noch lohnt, zu bestimmten Wirkstoffen in Deutschland Studien zu machen.“ Auch aus medizinischen Gründen macht die Diskriminierung von Schrittinnovationen keinen Sinn. Ohne sie wäre HIV heute immer noch eine garantiert zum Tode führende Krankheit.
- Stichwort Kombinationstherapien (Pharma Fakten berichtete): Auch der geplante 20-prozentige Abschlag auf Kombinationstherapien treibt die Geschäftsführerin um. „Krebspräparate sind niemals Einzelpräparate. Man wird immer versuchen, durch die Kombinationen von Therapien das Beste für die Patient:innen herauszufinden.“ Doch der Entwickler einer solchen Therapie steht vor folgender Rechnung: Sein Präparat, bereits mit einem 12-prozentigen Herstellerrabatt belegt, geht durch das AMNOG-Verfahren und hat bereits einen verhandelten, von allen Seiten akzeptierten Preis. Und nun kommen noch einmal 20 Prozent obendrauf. „Das Gesetz wird verhindern, dass wir in Zukunft adäquate Therapien haben werden“, prognostiziert Dr. Sabine Nikolaus.
Pharma: Schlüssel für Innovation und Wohlstand

Ohne Not werde der Gesundheitswirtschaft, mit fast 400 Milliarden Euro Bruttowertschöpfung ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in Deutschland, Schaden zugefügt. Ein Fünftel davon entfällt auf die industrielle Gesundheitswirtschaft. „Die Pharmaindustrie ist damit eine Schlüsselindustrie für Innovation, Wachstum, Produktivität und Wohlstand“, sagt Dr. Nikolaus. Oder anders: „Wenn dieses Gesetz so durchkommt, ist das eine Entmutigung für Investitionen in Deutschland. Aber wir brauchen sie, weil wir sonst noch mehr an Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Das können wir uns nicht leisten.“ Die Gesamtbetriebsratsvorsitzende von Boehringer Ingelheim, Sibylle Anhorn, formuliert es so: „Mit diesem Gesetzesentwurf besteht unserer Meinung nach die Gefahr, dass die pharmazeutische Forschung, Entwicklung und auch Produktion noch mehr aus Deutschland abwandert.“ Denn schließlich gewännen andere Boehringer-Standorte in Europa an Attraktivität. Deshalb hat sich der Konzernbetriebsrat erstmals in einem Brief an den Bundeskanzler gewandt. Die Sorgen der Arbeitnehmervertreterin sind groß.
Es ist das alte Lied: Die Ausgaben für Gesundheit laufen unter dem Aspekt „Kostenblock“ – und nicht als Investition in die Zukunft. So bastelt sich das Bundesgesundheitsministerium ein Gesetz, ohne die Folge zu betrachten, die das für den Wirtschaftsstandort haben kann. Und an die Patient:innen, für die es ja angeblich keine Leistungskürzungen geben soll, hat so richtig auch niemand gedacht. Am 20. Oktober soll der Bundestag das Gesetz in 2. und 3. Lesung beschließen. Ob sie eine Prognose abgeben möchte? Dr. Sabine Nikolaus sagt: „Wir hoffen immer noch, dass die Vernunft siegt.“
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