Die Sparpläne der Bundesregierung bedrohen akut die Versorgung der Patient:innen in Deutschland mit Arzneimittelinnovationen. Foto: ©iStock.com/Panuwat Sikham
Die Sparpläne der Bundesregierung bedrohen akut die Versorgung der Patient:innen in Deutschland mit Arzneimittelinnovationen. Foto: ©iStock.com/Panuwat Sikham

Innovative Arzneimittel: Versorgung der Menschen in Deutschland in Gefahr

Es betrifft alle Menschen in Deutschland: Die jüngsten Sparpläne der Politik bedrohen akut die Versorgung der Bundesbürger:innen mit innovativen Arzneimitteln. Das sagen Fachleute aus der Pharmabranche. Das sagen zahlreiche Mediziner:innen. Wird das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz in seiner jetzigen Form Realität, wird es den Zugang der Patient:innen zu wirksamen, neuen Medikamenten erschweren – und medizinischen Fortschritt im Keim ersticken.
Dr. Marco Penske, Head of Market Access & Health Care Affairs, Germany, Boehringer Ingelheim
Dr. Marco Penske, Leiter Marktzugang und Gesundheitspolitik. Foto: Boehringer Ingelheim Pharma GmbH & Co. KG

Als „unausgewogen, sogar als gefährlich“ empfinden Ärzt:innen aus der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) einige Vorschläge im geplanten GKV-Finanzstabilisierungsgesetz. Es ist ein „Angriff, der dazu führen wird, dass weniger in Deutschland investiert wird und innovative Produkte für Patient:innen nicht mehr oder merklich später verfügbar sein werden“, meint Dr. Marco Penske, Leiter Marktzugang und Gesundheitspolitik beim forschenden Pharmaunternehmen Boehringer Ingelheim in Deutschland. Der Pharmaverband vfa sieht „die umfassende Teilhabe am medizinischen Fortschritt aufs Spiel gesetzt“. 

Es sind deutliche Worte – und das obwohl allen klar ist: Es braucht schnell Lösungen, um das finanzielle Defizit in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) auszugleichen und für nachhaltige Stabilität zu sorgen. Doch sogar der Bundesrat als Vertretung der Länder kritisierte in einer Stellungnahme, dass die Pläne von Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach dazu nicht geeignet sind. Dafür sollen medizinische Versorgung und hiesige Forschungsaktivitäten in Gefahr gebracht werden?

Die COVID-19-Pandemie hat gerade erst verdeutlicht, wie wichtig es ist, eine starke forschende Pharmaindustrie im Land zu haben. Und wichtig ist auch, dass kranke Menschen nicht lange warten müssen, bis ein Medikament, das neu in Europa zugelassen wurde und ihre Behandlung verbessern könnte, auf dem nationalen Markt verfügbar ist. Noch funktioniert das in Deutschland relativ gut: Aktuell gelangen in keinem Land in Europa so viele neu zugelassene Medikamente so schnell zu den Patient:innen wie in der Bundesrepublik (s. EFPIA).

Innovative Arzneimittel: Nicht in Deutschland verfügbar?

Doch der Zugang zu sämtlichen Behandlungsmöglichkeiten ist „leider keine Selbstverständlichkeit“, so vfa-Präsident Han Steutel. Erst kürzlich hatte ein Hersteller ein Medikament vom Markt genommen. Der Grund: „methodische, nicht zeitgemäße Regularien im deutschen Nutzenbewertungssystem, die den Mehrwert der Therapie mit den zum jetzigen Zeitpunkt vorhandenen Daten nicht abbilden können“ (s. Handelsblatt). Das hat direkte Auswirkungen auf die Preisverhandlungen zwischen Pharmaunternehmen und Krankenkassen. Denn das 2011 implementierte AMNOG-Verfahren sieht vor, dass sich der Preis eines neu zugelassenen Medikaments am Zusatznutzen gegenüber bereits erhältlichen Medikamenten orientieren soll.

Bislang sind Marktrücknahmen relativ selten. Künftig könnte sich die Situation jedoch dramatisch verschlechtern, befürchten Expert:innen. Mit dem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz würden „bar jeder wissenschaftlichen Evidenz tiefgreifende Änderungen im AMNOG-System vorgenommen“, so der vfa

Therapie: Schritt für Schritt zum Fortschritt

vfa-Präsident Han Steutel
Han Steutel, vfa-Präsident. Foto: ©vfa / B. Brundert

Der Verband kritisiert, dass im Zuge der Preisfindung künftig ausschließlich sogenannte „Sprunginnovationen“ honoriert werden sollen, die initial einen „beträchtlichen“ oder „erheblichen“ Zusatznutzen belegen können. Sprunginnovationen sind Arzneimittel, die die Therapie einer Erkrankung schlagartig und grundlegend verändern – weil sie etwa erstmals Hoffnung auf Heilung geben oder neuartige Wirkmechanismen vertreten, die es vorher nicht gab. Tatsache ist: Solch sprunghafte Verbesserungen sind selten. 

In der Regel geht es Schritt für Schritt voran: „Als Schrittinnovationen werden häufig Arzneimittel mit einem ‚geringen Zusatznutzen’ bezeichnet. Aber der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) definiert in seiner Verfahrensordnung den geringen Zusatznutzen als eine gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie bisher nicht erreichte moderate – und nicht nur geringfügige – Verbesserung des therapierelevanten Nutzens“, erklärt Dr. Marco Penske, Boehringer Ingelheim. „Für unzählige Patient:innen stellen Schrittinnovationen also bereits eine signifikante Verbesserung ihrer eigenen Therapie dar. Deutlich wird dies am Beispiel der Entwicklungen zur Behandlung von HIV über die letzten 35 Jahre. Hier brachte den großen Durchbruch nicht ein Medikament, sondern die Kombination mehrerer. Eine Erkenntnis, die ohne zahlreiche Schrittinnovationen nicht möglich gewesen wäre.“ Schrittinnovationen ist zu verdanken, dass die Therapie von HIV – ehemals ein Todesurteil – heute immer besser und über lange Zeit verträglich sowie einfacher handzuhaben ist. 

GKV-Finanzstabilisierungsgesetz: Gefahr für Patient:innen von Heute

„Die Bedeutung und der Nutzen von Schrittinnovationen für unzählige Patient:innen wird mit den geplanten Verschärfungen im GKV-Finanzstabilisierungsgesetz völlig verkannt“, findet Dr. Penske. Denn bei den Regeln zur Preisfindung sieht das geplante Gesetz ihre systematische Abwertung vor. „Bis zu 80 Prozent der AMNOG-Arzneimittel wären davon potenziell betroffen“. Für ein Arzneimittel, dem ein „nicht quantifizierbarer“ oder ein „geringer“ Zusatznutzen gegenüber einem patentgeschützten Therapiestandard zugesprochen würde, ist laut Gesetzentwurf dann „ein Erstattungsbetrag zu vereinbaren, der nicht zu höheren Jahrestherapiekosten führt als die zweckmäßige Vergleichstherapie“. Besseres Medikament, aber kein besserer Preis: Das bedeutet die Abkehr vom bewährten Prinzip nutzenbasierter Preisverhandlungen im AMNOG.

In erster Linie würde das die Versorgung von Patient:innen beeinträchtigen, sagt Dr. Penske. Es „würde ein wesentlicher Anreiz zur Verfügbarkeit neuer Arzneimittel in Deutschland wegfallen“, erläutert Mediziner Prof. Dr. Rolf-Detlef Treede, Präsident der AWMF. Denn wenn sich Erstattungskonditionen deutlich verschlechtern und schwerer zu kalkulieren sind, verliert der deutsche Markt an Attraktivität. Bei globalen Markteinführungen von Medikamenten würde er nicht mehr erste Wahl sein – wenn er denn überhaupt zum Zuge kommt.  

GKV-Finanzstabilisierungsgesetz: Gefahr für Patient:innen von Morgen

Deutschland-Karte
Sparpläne: Nachhaltige Beeinträchtigung des Innovationsstandortes Deutschland. Foto: ©iStock.com/Lilkin

Zusätzlich drohen die Sparpläne der Politik, Schrittinnovationen von Morgen „im Keim zu ersticken“ und den „Innovationsstandort Deutschland“ nachhaltig zu beeinträchtigen, so Dr. Penske. „Einzelne Schritte“ würden nicht „mehr belohnt und der Fortschritt so gehemmt.“ Dabei sind es häufig „die Schrittinnovationen, die wichtige Erkenntnisse generieren, den Fortschritt treiben und so zur erstrebenswerten Sprunginnovation führen.“ Bis ein Wirkstoff zugelassen ist, vergehen im Schnitt mehr als 13 Jahre; 5.000 bis 10.000 Substanzen werden anfangs untersucht. Die Preise für neue Arzneimittel sind notwendiger Anreiz, damit sich privatwirtschaftliche Firmen dieser Herausforderung stellen können.

Das geplante GKV-Finanzstabilisierungsgesetz enthält eine Vielzahl an weiteren Eingriffen in den Arzneimittelbereich – darunter ein pauschaler 20-prozentiger Abschlag auf Kombinationstherapien. „Im Paket entfalten sie […] eine kumulative Wirkung“, weiß der vfa. Auch der Bundesrat befürchtet eine „überproportional starke“ Belastung der pharmazeutischen Unternehmen, was ihre Innovationstätigkeit erschwert. Dr. Penske fordert: „Wenn der Gesetzgeber das AMNOG verändern will, dann bitte nur in einem ernsthaften Dialog mit denen, die es betrifft: Patient:innen und die forschenden Arzneimittel-Hersteller.“ 

In der Haut von Prof. Dr. Karl Lauterbach will aktuell niemand gerne stecken. „Deutschland braucht ein nachhaltiges und finanzierbares Gesundheitssystem, das Fortschritt in der Medizin fördert und den Zugang zu innovativen Therapien für alle Patienten ermöglicht“, schreibt der Bundesrat. Das gleicht einem Balanceakt – allerdings verfehlt der Minister mit seinen Plänen alle drei Ziele gleichzeitig. Gefragt sind nachhaltige Strukturreformen – sicherlich, das ist einfacher gesagt als getan. Doch es gibt viele Stellschrauben. Allein schon die Absenkung der Mehrwertsteuer für Arzneimittel – wie sie in vielen Ländern praktiziert wird – könnte mehrere Milliarden Euro pro Jahr einsparen.

Weiterführende Links:

Stellungnahme des vfa zum GKV-FinStG

Stellungnahme der AMWF zum GKV-FinStG

Stellungnahme des Bundesrats zum GKV-FinStG

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