Bei der Behandlung von seltenen Erkrankungen ist in den vergangenen Jahren viel passiert. Doch der soll jetzt der Hahn abgedreht werden. Expert:innen sind alarmiert. Foto: ©Alexion
Bei der Behandlung von seltenen Erkrankungen ist in den vergangenen Jahren viel passiert. Doch der soll jetzt der Hahn abgedreht werden. Expert:innen sind alarmiert. Foto: ©Alexion

Orphan Drugs: Innovationsfeindlichkeit per Gesetz?

Bei der Behandlung von seltenen Erkrankungen ist in den vergangenen Jahren viel passiert. Der Grund: Eine Politik der Vorfahrt für Innovationen. Doch der soll jetzt der Hahn abgedreht werden, wenn der Entwurf des GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes (GKV-FinStG) diese Woche verabschiedet wird. Expert:innen sind alarmiert, Betroffene verunsichert.

„Ich versetze mich immer in die Lage, ich wäre die Mutter eines Kindes mit einer seltenen Erkrankung, die vielleicht sogar mit einem frühen Lebensende einhergeht – ich würde schier verzweifeln.“ Das sagt Prof. Dr. Annette Grüters-Kieslich, Kinderärztin und Vorstandsvorsitzende der Eva Luise und Horst Köhler Stiftung für Menschen mit Seltenen Erkrankungen. In der Diagnose und Therapie der „Seltenen“ „ist viel Gutes passiert, aber das Tempo ist nicht ausreichend.“ 

2 Seiten einer Medaille: Zum einen stehen heute rund 200 Arzneimittel zur Behandlung der „Orphans“ zur Verfügung, über 700 Wirkstoffe werden klinisch geprüft, die Infrastruktur der Versorgung hat sich verbessert, das Bewusstsein für die Betroffenen ist gestiegen, der politische Wille ist – bisher – da. Aber noch immer ist die erdrückende Mehrheit dieser meist genetisch bedingten Erkrankungen nicht kausal therapierbar. Es gibt also noch viel zu tun, so der Tenor des Expertenforums „Seltene Erkrankungen: Was bringt die Zukunft für Innovationen in Deutschland?“, das von dem forschenden Unternehmen Alexion zusammen mit dem Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) veranstaltet wurde.

Ein Grund für die sich seit dem Jahr 2000 rasant entwickelnden Pipelines von Wirkstoffen ist eine EU-Verordnung. Mit ihr wurde ein Anreizsystem geschaffen, um die Versorgung der Menschen mit in der Regel hochkomplexen Systemerkrankungen zu verbessern. Diese Verordnung mit der Nummer Nr. 141/2000 gilt als großer Erfolg. Vor diesem Datum gab es in diesem Bereich so gut wie keine neuen Arzneimittel – und wenn, war es mehr das Ergebnis vom Faktor Zufall als durch gezielte Forschung.

Seltene Erkrankungen: Nie gesehener Fortschritt

Das ist heute anders, so Prof. Grüters-Kieslich. „Wir haben in den vergangenen 20 Jahren einen vorher nie gesehenen Fortschritt in der Technologieentwicklung und in den Methoden, nicht nur eine genetische Variation zu finden, sondern auch den Patho-Mechanismus zu erforschen.“ Das Verständnis dieser Kausalkette von Vorgängen im Körper, die eine Erkrankung ausmachen, ist die Voraussetzung dafür, dass Therapien entwickelt werden können. „Wir brauchen jetzt mehr Tempo. Die Methoden sind im Prinzip da.“  In Deutschland sind heute ein Viertel der Wirkstoffe, die neu eigeführt werden, Orphan Drugs.

Prof. Dr. Annette Grüters-Kieslich, Kinderärztin
Prof. Dr. Annette Grüters-Kieslich, Kinderärztin. Foto: ©Alexion

Für Menschen mit einer seltenen Erkrankung gibt es vor allem eine Hoffnung: Dass Arzneimittel entwickelt werden, die kausal dort ansetzen, wo die Erkrankung entsteht. Graham Skarnvad, Geschäftsführer von Alexion in Deutschland, machte deutlich: Innovation ist der Schlüssel. „Wir sind uns alle einig, dass das Leben von 4 Millionen Menschen in Deutschland mit seltenen Erkrankungen weiter verbessert werden kann und muss.“ Der Koalitionsvertrag habe ihm zunächst Hoffnung gemacht; dort ist das Ziel festgeschrieben, „ein versorgendes, krisenfestes und modernes Gesundheitssystem aufzubauen, das seltene Erkrankungen bekämpft.“ Die im GKV-FinStG geplanten Maßnahmen sieht Skarnvad als einen „Frontalangriff auf innovative Arzneimitteltherapien.“ (Pharma Fakten berichtete).

Das GKV-FinStG: Auswirkung auf die Versorgung mit Arzneimitteln?

Welche potenziellen Auswirkungen hat das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz auf Innovationen und die Versorgung bei seltenen Erkrankungen in Deutschland? Gesundheitsökonom Professor Jürgen Wasem sieht den Entwurf problematisch: „Die Anreize gehen zum Teil in die falsche Richtung. Das ist sicher nicht das, was man sich in der Umsetzung des Koalitionsvertrages erwarten würde.“ Er plädierte dafür, lieber den Herstellerrabatt zu erhöhen, wenn man denn „ein bestimmtes Finanzvolumen von der Pharmaindustrie“ bekommen wolle. Er kritisierte die kleinteiligen, in ihren Auswirkungen nicht evaluierten Eingriffe in das Nutzenbewertungssystem AMNOG. Wasem sieht als mögliche Effekte des Gesetzes, dass Arzneimittel gegen Seltene gar nicht oder später in Deutschland verfügbar sein könnten. 

Auch Professor Dr. Matthias Schönermark, HNO-Arzt und Berater, sieht die geplanten Regelungen am Nutzenbewertungssystem AMNOG im GKV-FinStG kritisch. „Wir sehen da überhaupt keinen Änderungsbedarf.“ Das Gesetz, mit dem seit 2011 in Deutschland neue Arzneimittel auf ihren Zusatznutzen gegenüber einer Vergleichstherapie evaluiert und dann nach einer Verhandlungslösung erstattet werden, „hat wunderbar funktioniert.“ Die allermeisten Erstattungsbeträge seien ausgehandelt worden; sprich: Sie sind das Ergebnis eines Agreements zwischen GKV-Spitzenverband und pharmazeutischen Unternehmer. Nun werde in dieses filigrane System hinein administriert: „Das halte ich für hochproblematisch.“ Und er ergänzt: „Es ist unbedingt notwendig, die bestehenden Anreizsysteme zu erhalten. Die allermeisten Patienten haben noch keine verfügbare Therapie.“  

GKV-Spargesetz: Folgen für den Wissenschaftsstandort

Das GKV-FinStG: Auswirkung auf die Versorgung mit Arzneimitteln?
Expertenforum „Seltene Erkrankungen: Was bringt die Zukunft für Innovationen in Deutschland?“. Foto: ©Alexion

Befürchtet werden auch Nachteile für den Wissenschafts- und Forschungsstandort Deutschland. Professor Wasem erinnerte daran, dass in den USA „großzügige steuerliche Subventionen für Investitionen“ im Bereich Biotechnologie in Kraft gesetzt wurden. Man müsse den Zusammenhang sehen: „Wenn in den USA Investitionen deutlich attraktiver werden, dann hat das auch Einfluss auf die Frage, ob man das Forschungsprogramm und den Produktionsprozess in Deutschland ansetzt oder doch lieber woanders.“

Deutlich klarer als die möglichen Folgen auf das Innovationsökosystem sind die finanziellen Folgen des GKV-FinStG. Noch einmal Professor Wasem: „Das Gesetz ist so gestrickt, dass es gerade mal für 2023 hält. Doch schon 2024 stehen wir wieder am gleichen Punkt. Schließlich kann man die Rücklagen der Kassen nur einmal plündern.“ Stabile Rahmenbedingungen sieht er als unerlässlich an. Und „tiefgreifende strukturelle Reformen“ – statt klassischer Kostendämpfung.

Eines hat der Gesetzentwurf jetzt schon erreicht, wie eine Teilnehmerin des Expertenforums anmerkte: Eine massive Verunsicherung der Ärzt:innen, die Menschen mit seltenen Erkrankungen behandeln.

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