Immer mehr klinische Forschung ohne Patient:innen aus Europa?

Die Zahl der Menschen aus Europa, die an klinischen Studien teilnehmen, sinkt. Das geht aus einem Bericht hervor, den das Beratungsunternehmen IQVIA erstellt hat. Laut dem Pharmaverband EFPIA sind es Hürden im System, die verhindern, dass hier mehr Forschung stattfindet – zulasten der Patient:innen.
Klinische Forschung in Europa
Klinische Forschung: Neue Chance für Patient:innen. ©iStock.com/beast01

Die pharmazeutische Industrie führt weltweit zahlreiche klinische Forschungsprojekte durch, um Arzneimittel und Impfstoffe zu entwickeln. Dem Bericht zufolge, den IQVIA für den Pharmaverband EFPIA und die Vereinigung Vaccines Europe erstellt hat, waren es 2023 fast 8.000 Studien der Phase 1 bis 4. Doch scheinbar spielt Europa dabei eine immer kleinere Rolle: Waren vor einem Jahrzehnt noch 22 Prozent aller begonnenen Industrie-Studien im Europäischen Wirtschaftsraum (EEA) angesiedelt (1.287 Studien), ist dieser Anteil zunächst auf 18 Prozent (1.400) und inzwischen auf 12 Prozent gesunken (997).

Dass hier weniger klinische Studien gemacht werden, muss nicht automatisch etwas Schlechtes sein: Gibt es vielleicht weniger, aber dafür größere Studien, die mehr Proband:innen einschließen? Global gesehen konnten zuletzt zwar rund 70.000 mehr Menschen an Studien teilnehmen als noch 2018. Doch für Europa gilt: In ausschließlich in EEA-Ländern stattfindenden Studien sank die Zahl der Patient:innen von 2018 auf 2023 um rund 20.000; in weltweiten Studien, die ein EEA-Land involvierten, reduzierte sie sich um 60.000 (s. Grafik). Es sind verpasste Chancen: Für schwerkranke Menschen, die austherapiert sind, für die also keine zugelassene Therapie mehr zur Verfügung steht, kann eine klinische Studie die allerletzte Behandlungsoption sein.

Forschung in Europa: Hürden im System

Forschung in Europa: Hürden im System
Forschung in Europa: Hürden im System. Foto: ©iStock.com/gorodenkoff

Zwar gibt es laut dem IQVIA-Bericht durchaus bedeutende Unterschiede von Nation zu Nation. Doch bis auf Portugal, Slowakei und Griechenland haben alle EEA-Länder heute weniger neu begonnene Studien als noch 2018 vorzuweisen. Das deute auf ein „systematisches Problem in der Region“ hin, heißt es seitens EFPIA. Der Verband kritisiert, dass die Rahmenbedingungen nicht so gut sind wie anderswo. Gerade die Konkurrenz aus China und den USA ist groß. „Zum Beispiel ist die EEA über alle untersuchten Therapiefelder (Onkologie, Infektions- und seltene Krankheiten) langsamer als die USA, wenn es um das Aufsetzen von und den Zugang zu Studien geht.“

Nathalie Moll, EFPIA-Generaldirektorin, erklärt: „Europäische klinische Studien werden durch ein langsames, fragmentiertes Forschungsökosystem behindert“. Aktuell gelingt es nicht, die Talfahrt zu stoppen und umzukehren. „Damit Europa wettbewerbsfähig ist, muss es als eine Einheit funktionieren, nicht als individuelle Mitgliedsstaaten“, findet sie. Außerdem brauche es eine Politik, die Europa als Standort für Investitionen in Forschung weltweit attraktiv macht. „Nur dann werden Europäer:innen dieselben Chancen auf medizinische Durchbrüche haben wie Patient:innen in anderen Weltregionen.“

Weiterführende Links:

EFPIA: „60,000 fewer clinical trial places for Europeans, despite global surge in research projects.

IQVIA (EFPIA, Vaccines Europe): Assessing the clinical trial ecosystem in Europe, Finale Report

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