Wenn es um Forschung und Entwicklung (F&E) und den Zugang zu neuen Behandlungsmethoden geht, gibt es „einige bedeutende Lücken“, sagt Nathalie Moll, Generaldirektorin des europäischen Pharmaverbands EPFIA. „Die Investitionslücke zwischen den USA und der EU betrug vor 20 Jahren zwei Milliarden Euro, heute sind es 25 Milliarden Euro. Das ist ein Anstieg der Kluft um tausend Prozent“ (s. Grafik). Und auch China hat in den vergangenen Jahren den Turbo eingelegt. Zwischen 2018 und 2022 sind die F&E-Aufwendungen dort mehr als dreimal so schnell gewachsen wie in Europa.
Das hat weitreichende Folgen: Denn es ist nicht nur Geld, das vermehrt anderswo investiert wird. Mit jedem Forschungsprojekt, das nicht in Europa stattfindet, entgeht den hiesigen Ärzt:innen die Möglichkeit, die Medizin von Morgen aktiv mitzugestalten. Patient:innen beraubt es an Chancen, schon früh über klinische Studien von innovativen Therapieansätzen zu profitieren. Jobs gehen verloren, Wissen geht verloren. Neu zugelassene Arzneimittel und Impfstoffe kommen gegebenenfalls erst in anderen Regionen der Welt zum Einsatz.
Zeitalter der Innovation?
Dabei stehen die Zeichen der Zeit auf Innovation: Die Zahl der klinischen Studien mit CAR-T-Zelltherapien hat sich seit 2020 fast verdreifacht. „CAR-T“ ist eine neuartige, personalisierte Möglichkeit Blutkrebserkrankungen zu bekämpfen – und könnte künftig bei vielen weiteren Krankheitsbildern zum Einsatz kommen. Doch die große Mehrheit der klinischen Studien (rund 80 %) findet nicht in Europa statt – wir haben den Anschluss verloren.
Vor diesem Hintergrund ist es eigentlich eine gute Sache, dass die Europäische Kommission mit ihrem Entwurf für ein „EU-Pharma-Paket“ daran arbeitet, das Arzneimittelrecht grundlegend zu reformieren. Aber nur eigentlich. Denn die Gesetzgebung wird die „Zukunft von Forschung, Entwicklung sowie Produktion in Europa für die kommenden Jahrzehnte prägen“ (O-Ton EFPIA) – und ist momentan so gestrickt, dass sie Innovationen verstärkt den Hahn abdrehen könnte. Richtig gehört: Statt Vollgas zu geben und zu einem Überholmanöver anzusetzen betätigt die Politik die Bremse. Der Verband der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa) fürchtet unter anderem, dass ein „besonders kompliziertes System mit herabgesetzten Schutzstandards beim geistigen Eigentum“ entsteht. F&E-Investitionen werden dann unattraktiver.
EFPIA warnt: „Werden keine Änderungen vorgenommen, wird Europa von den medizinischen Innovationen anderer Regionen abhängig sein und unsere Bürger:innen werden länger auf medizinische Fortschritte warten müssen.“
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Seltene Erkrankungen: Wie Politik Innovationen die Vorfahrt nimmt
Gesundheitspolitik geht alle an: Das zeigt das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz. Eigentlich soll es vor allem eines tun: Geld auf Seiten der Krankenkassen einsparen. Aber es hat Folgen, die schon heute die Gesundheitsversorgung der Menschen in Deutschland verschlechtern. Auch auf europäischer Ebene arbeitet die Politik an einem neuen Gesetz: Das „EU-Pharma-Paket“ könnte laut einem Gutachten dazu führen, dass Forschung und Entwicklung zurückgeschraubt und deutlich weniger Orphan Drugs zugelassen werden. Rund 1,5 Millionen Menschen mit seltenen Erkrankungen würden in der Folge einer neuartigen Behandlungsoption beraubt.
EU-Pharma-Paket: Große Reformen?
Mit ihrem EU-Pharma-Paket will die Europäische Kommission dafür sorgen, dass alle Patient:innen „Zugang zu innovativen und erschwinglichen Arzneimitteln“ haben. Zudem möchte sie „die Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit sowie die Nachhaltigkeit der EU-Arzneimittelindustrie“ unterstützen. Die Pharmabranche fürchtet jedoch, dass das Gesetz mehr schaden als nützen könnte – denn der garantierte Schutz des geistigen Eigentums für Medikamente soll verkürzt werden. Mit Caroline von Nussbaum, Rechtsanwältin bei der Kanzlei Simmons & Simmons, haben wir über den Gesetzentwurf gesprochen.
Große Unterschiede in europäischer Arzneimittelversorgung: „Kein tragbarer Zustand“
Menschen in Malta warten im Schnitt 1.351 Tage, also fast 4 Jahre, bis ein neu zugelassenes Arzneimittel für sie verfügbar wird. In Deutschland – Spitzenplatz in Europa – sind es 128 Tage. Die Ergebnisse aus einer Untersuchung des Pharmaverbands EFPIA machen deutlich: Von Land zu Land gibt es enorme Unterschiede. Die EU-Kommission will das Problem mit ihrem „Pharma-Paket“ angehen – doch das könnte mehr schaden als nützen.