Die Prüfungen bei der Arzneimittelbehörde EMA laufen noch. Anders als Großbritannien müssen sich die Staaten der Europäischen Union (EU) daher noch etwas gedulden: Die Zulassung einer Vakzine gegen SARS-CoV-2 wird für Ende 2020 oder Anfang 2021 erwartet – Hoffnung in einer Pandemie.
Die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen des Forschungsprojektes „COVID-19 Snapshot MOnitoring COSMO“ unter Führung der Universität Erfurt befürchten aber, dass die Impfbereitschaft in der deutschen Bevölkerung mit aktuell 50 Prozent nicht ausreicht, „um die Verbreitung des Virus zu stoppen“ (Stand: 4.12.2020). In ihren Augen sind unter anderem „vertrauensbildende Maßnahmen“ notwendig – wie etwa Aufklärung über die Impfstoffentwicklung.
Pandemie: Die Zeit im Nacken
Weltweit laufen über 200 Forschungsprojekte mit Vakzinen. Dabei ist SARS-CoV-2 erst seit Beginn des Jahres bekannt. Manche befürchten daher, dass Schnelligkeit zu Lasten von Evidenz und Sicherheit geht.
Dabei müssen auch die Impfstoffe gegen das Coronavirus nach demselben Prinzip entwickelt werden wie andere Impfstoffe auch. Das heißt: Der Kandidat durchläuft präklinische Untersuchungen sowie die klinischen Studienphasen I bis III. Eine bedingte Marktzulassung für einen Coronaimpfstoff „erteilen wir nur dann, wenn wir uns sicher sind, dass das Produkt sicher, qualitativ hochwertig und wirksam ist. Wenn wir wissen, dass es in gleichbleibender Qualität produziert werden kann und der Bevölkerung in der EU wirklich nützt“, bestätigt Emer Cooke, Chefin der EMA, im Interview mit der WELT.
Natürlich: In einer Pandemie sitzt den Forschern und Forscherinnen die Zeit im Nacken – denn selbst in Deutschland, das bisher vergleichsweise gut durch die Krise kam, sterben aktuell um die 500 Menschen binnen 24 Stunden an dem Virus. Alle an der Impfstoffentwicklung Beteiligten ziehen deshalb an einem Strang – weltweit bündeln sie Wissen und Expertise. Sie gestalten ihre Zusammenarbeit enger, die Prozesse national und international effizienter – und zwar „ohne Abstriche bei der Sorgfalt“ zu machen, so das Paul-Ehrlich-Institut (PEI), das Bundesinstitut für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel. Wie das geht? Das PEI nennt vier Punkte:
- „Zeitgewinn durch Wissenschaftliche Beratung“: Schon früh im Prozess der Impfstoffentwicklung und -zulassung erhalten die Herstellerfirmen fortlaufend wissenschaftlich-regulatorische Beratungen durch die Arzneimittelbehörden. Sie werden dadurch u.a. auf die inhaltlichen Anforderungen bei der Stellung des Zulassungsantrags vorbereitet – das gestaltet den Prozess reibungsloser und vermeidet Verzögerungen.
- „Zeitgewinn durch Rolling Review“: Das Rolling-Review-Verfahren ermöglicht, dass Impfstofffirmen erste Daten „zur Vorab-Bewertung für die Zulassung“ abgeben, obwohl die klinische Phase 3-Prüfung noch im Gange ist. „So können Teile des Antragsdossiers bereits vor der eigentlichen Antragstellung geprüft, verbessert und bewertet werden“, erklärt das PEI. Das verkürzt am Ende die Zeit der Bearbeitung des gesamten Zulassungsantrags; mit der Bewertung des Kandidaten kann früher begonnen werden.
- „Zeitgewinn durch Kombination von klinischen Prüfungsphasen“: Die klinischen Studienphasen I, II und III finden in der Regel hintereinander statt. Nicht so in einer Pandemie: Sie können miteinander kombiniert werden. Das heißt: Es ist möglich, z.B. Organisatorisches – wie etwa die Rekrutierung von Probanden und Probandinnen – für zwei Studienphasen in einem Vorgang zu bündeln.
- „Zeitgewinn durch Forschungswissen zu Coronaviren”: Die Arzneimittel und Impfstoffe, die aktuell eine Chance auf Zulassung haben, bauen auf den Forschungsarbeiten vieler Jahre auf. Es stimmt: SARS-CoV-2 ist noch nicht lange bekannt. Andere, ähnliche Coronaviren aber schon – man denke nur an die Epidemie mit SARS-CoV-1 2002/2003 oder mit MERS im Jahr 2012.
Hinzu kommt: Weil Pandemie ist, gibt es viele Krankheitsfälle und eine große Aufmerksamkeit für das Thema weltweit. Die EMA-Chefin betont, dass das Tempo der Impfstoffentwicklung „zwar hoch ist, aber gleichzeitig auch die verfügbaren Informationen viel umfangreicher als sonst. Es wurden im Rahmen der klinischen Studien jeweils mehr als 30.000 Probanden geimpft.“ Das sei deutlich mehr, „als das bei vielen anderen Produkten der Fall war, die längst zugelassen sind.“ Aufgrund „der großen Datenmengen bei den COVID-19-Vakzinen kann man daher schon jetzt Rückschlüsse über Sicherheit und Wirksamkeit ziehen, obwohl alles so schnell ging.“
Pandemie: Alles auf eine Karte setzen
Die Arzneimittel- und Impfstoffindustrie ist im Hochleistungsmodus – mit einem klaren Ziel: SARS-CoV-2 erfolgreich bekämpfen. Dazu braucht es viel unternehmerischen Mut, denn die Firmen setzen quasi alles – Finanzkraft, Personal, Labore, Produktionsanlagen – auf eine Karte. Und das bei hohem Wettbewerbsdruck. Auch das sind Gründe dafür, dass momentan so schnell geht, was sonst viele Jahre dauert. Für die Firmen bedeutet das ein enormes (wirtschaftliches) Risiko. Denn am Ende können sich, wenn überhaupt, nur wenige Impfstoffe durchsetzen. Trotzdem wurden schon vor einer möglichen Zulassung Produktionsstätte in Betrieb genommen, zahlreiche Dosen hergestellt und Auslieferung sowie Logistik geplant – um im Fall der Fälle bereit zu sein.
Oft heißt es kritisch, es gebe noch gar keine Langzeitdaten. Das ist richtig. Wie denn auch? Gewisser Maßen ist das ein Merkmal jeder medizinischen Innovation – nicht nur eines SARS-CoV-2-Impfstoffes, sondern zum Beispiel auch eines Wirkstoffs, der erstmals die Leberentzündung Hepatitis C heilt. (Im Jahr 2014 war das.) Eine weltweite Pandemie bringt mit sich, dass eine besonders große Zahl an Experten und Expertinnen ihre Augen auch nach Zulassung auf den Impfstoffen haben wird. Laut Emer Cooke, Chefin der EMA, müssen die Herstellerfirmen außerdem ein Jahr lang jeden Monat Bericht zu Wirksamkeit und Sicherheit erstatten – anstatt wie normalerweise nur alle sechs Monate. Selbst die seltenste Nebenwirkung soll zügig aufgedeckt werden.
Impfen: Individuelles Recht, soziale Verantwortung
Es ist nichts Neues: Die Zulassung ein jeder Innovation basiert auf einem Abwägen der Arzneimittelbehörden – nur wenn der Nutzen die Risiken überwiegt, geben sie ihr „OK“. Die Entscheidung für oder gegen das Impfen liegt bei jedem und jeder Einzelnen. Für manche mag es nur um die Vorbeugung einer Erkrankung gehen, deren Gefährlichkeit nach wie vor oft unterschätzt wird (Pharma Fakten berichtete). Daten aus dem „COVID-19 Snapshot MOnitoring COSMO“ zeigen, dass die Impfbereitschaft unter anderem bei den Personen geringer ist, die COVID-19 für nicht bedrohlich und die Impfung für überflüssig halten. Doch Impfen ist mehr als nur individuelles Recht. Es ist soziale Verantwortung – denn es geht immer auch um den Schutz anderer Menschen wie chronisch Kranke oder Senioren und Seniorinnen.
Hinweis: Die Arzneimittelbehörde EMA organisiert am 11. Dezember eine virtuelle Veranstaltung für alle europäischen Bürger, bei der sie über den Zulassungsprozess und ihre eigene Arbeit informieren wird: https://www.ema.europa.eu/en/news/ema-organises-public-meeting-covid-19-vaccines.