Fortschritte in der Leukämie-Behandlung - die Überlebenskurven haben sich bei den akuten als auch bei den chronischen Leukämien deutlich verbessert. Logo: © Pharma Fakten e.V.
Fortschritte in der Leukämie-Behandlung - die Überlebenskurven haben sich bei den akuten als auch bei den chronischen Leukämien deutlich verbessert. Logo: © Pharma Fakten e.V.

Die lange Suche nach der Therapie

Dr. Henry Wahlig hat HSP – Hereditäre Spastische Spinalparalyse. Eine Krankheit, die kaum jemand kennt. Er ist einer von vier Millionen Menschen in Deutschland, die an einer seltenen Erkrankung leiden. Für die meisten dieser Krankheiten gibt es keine Therapie. Mit einer Stiftung fördert Henrys Vater die Grundlagenforschung, um den Pharmaunternehmen die Ansätze zu liefern, die sie für neue Medikamente brauchen.

Mit zwölf Jahren zeigten sich bei Henry Wahlig die ersten Symptome. Ein leichtes Stolpern beim Laufen, leichte Verkrampfungen – Zeichen für die beginnende HSP. Wie sich später herausstellt, leiden auch Henry Wahligs Mutter und Großmutter an der Erbkrankheit. 2.000 bis 3.000 Menschen sind in Deutschland an HSP erkrankt. Die Dunkelziffer ist hoch, da die Diagnose schwierig ist, die Symptome häufig als Multiple Sklerose fehlgedeutet werden. Eine Therapie gegen HSP gibt es nicht, auch für die Linderung der Symptome sind keine Wirkstoffe zugelassen.

Dieses Schicksal teilen die HSP-Patienten mit den meisten anderen von seltenen Erkrankungen betroffenen. Rund 7.000 seltene Erkrankungen sind bekannt und im Orphanet-Verzeichnis aufgelistet. Für nur 177 davon gibt es Therapien, einige andere können über Off-Label-Use behandelt werden. Als selten gilt eine Erkrankung nach EU-Definition, wenn weniger als einer von 2.000 Menschen betroffen ist.

 

Henry Wahlig ist jetzt 35 und hat sich mit der Krankheit so gut wie möglich abgefunden. „Zehn bis zwanzig Meter kann ich noch ohne Hilfe gehen, ansonsten brauche ich halt Krücken oder den Rollstuhl.“ Seine Leidenschaft für Fußball konnte er nie selbst ausleben – losgelassen hat ihn der Sport aber nicht. Während seines Studiums hat Henry Wahlig in der Pressestelle des VfL Bochum gearbeitet, als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sportwissenschaft der Uni Hannover hat er über jüdische Sportler in Deutschland promoviert. „Es ist bitter, wenn man sieht, was man nach und nach alles nicht mehr kann“, sagt er. Andererseits sei es eine gut berechenbare Krankheit, die in eine vollständige Lähmung der Beine münde. „Im Vergleich zu tödlich verlaufenden Erkrankungen geht es mir relativ gut.“ Komplizierte Verläufe der HSP können allerdings auch Teile des Oberkörpers lähmen.

Grundlage: Ein Forschungsstand von 1886

Dr. Tom Wahlig musste die beginnende Krankheit seines Sohnes mit ansehen – abfinden wollte er sich mit ihr nicht. 1998 gründete er die Tom-Wahlig-Stiftung mit dem Ziel, die Krankheit und ihre Ursache zu erforschen, um den Weg für eine Therapie zu bereiten. Die Grundlage für seine Arbeit war denkbar dünn, der aktuellste Forschungsstand stammte aus dem Jahr 1886. „Am Anfang hatten wir nichts. Es war noch nicht einmal das Gen bekannt, das bei HSP defekt ist, nur, dass die Krankheit wahrscheinlich erblich ist“, erinnert sich der Stifter. Mit viel Einsatz hat er sich in die Materie hineingearbeitet, Ärzte und Forscher kontaktiert, Netzwerke geschaffen.

Die Erfolge, die Tom Wahlig mit seiner Stiftung erreicht hat, sind beachtlich. 21 Gene, die durch einen Defekt die Krankheit auslösen können, und 48 Genorte sind mittlerweile bekannt. Viele der Erkenntnisse sind direkte Resultate der 35 Forschungsprojekte, die durch die Stiftung finanziell unterstützt wurden. Auch ein stabiles Mausmodell wurde entwickelt. Aber eine Therapie? „Bislang Fehlanzeige“, sagt Tom Wahlig. „Es sind immer wieder vielversprechende Ansätze dabei, aber keiner, der zum Durchbruch führt.“

Das Risiko des Scheiterns in der Forschung ist groß

 

Dieses Problem kennt Dr. Peter-Andreas Löschmann, Medical Director für den Bereich Seltene Erkrankungen bei Pfizer, zur Genüge. „Das Risiko des Scheiterns ist in der Arzneimittelforschung sehr groß. Nur jedes zehntausendste Molekül, an dem geforscht wird, schafft es zur Zulassung.“ Dennoch sei das Engagement von Initiativen wie der Tom-Wahlig-Stiftung sehr wichtig und ein möglicher Beginn für die Entwicklung einer Therapie bei Pfizer. „Prinzipiell kann aus jedem rationalen Forschungsansatz etwas therapeutisch Verwertbares entstehen“, betont Löschmann.

 

Eine der Aufgaben als Stifter sieht Tom Wahlig auch darin, die Forschung immer wieder in die richtige Richtung zu lenken. „Ich muss daran erinnern, dass die Entwicklung einer Therapie unser Ziel ist“, sagt er. Dieses Ziel versteht sich bei Pfizer von selbst. Allerdings ist hier nicht eine Krankheit, sondern ein ganzes Spektrum im Blick. „Es gibt für uns keinen festgeschriebenen Weg“, erklärt Löschmann. „Es kann sein, dass wir an einem pharmakologischen Prinzip arbeiten und feststellen, dass es für die Behandlung einer bestimmten seltenen Erkrankung geeignet ist.“ Auch bereits bekannte Wirkmechanismen würden auf eine Wirksamkeit bei seltenen Erkrankungen untersucht werden.

Nationaler Aktionsplan ein großer Schritt in der Vernetzung

Die Suche nach einer Therapie ist häufig wie die nach der Stecknadel im Heuhaufen. Die vielen Hürden kennt auch Dr. Andreas Reimann, Vorstandsvorsitzender der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen ACHSE e.V., nur zu genau: „Ich muss erst einmal überhaupt die Krankheit verstehen, um einen biologischen Ansatzpunkt zu haben. Dann brauche ich einen Wirkmechanismus, der dort angreift. Dieser muss patentierbar sein. Damit kann ich dann einen Investor suchen.“ Tom Wahlig steht bei der HSP noch immer vor der zweiten Hürde, bei vielen Erkrankungen ist noch nicht einmal die erste genommen.

 

Als Dachverband von Patientenorganisationen und Stiftungen im Bereich der seltenen Erkrankungen versucht die ACHSE, an allen Punkten dieses Prozesses anzusetzen. „Wir schaffen Verbindungen zwischen Forschungsansätzen, die von Mitgliedern kommen, und Unternehmen oder Einrichtungen, die diese Ansätze weiterführen können“, erläutert Reimann. Ein wichtiger Schritt in Richtung stärkerer Vernetzung mit der Gründung des Nationalen Aktionsbündnisses für Menschen mit seltenen Erkrankungen (NAMSE) durch die ACHSE, das Gesundheits- und das Forschungsministerium im Jahr 2010 erreicht worden. Forschung fördern, Versorgung verbessern, Klinische Studien ermöglichen – diese Inhalte finden sich im Nationalen Aktionsplan des NAMSE wieder, der 2013 verabschiedet wurde.

Steuerliche Förderung der Forschung als Option

 

Dieses Engagement der öffentlichen Hand ist auch eine Antwort auf den immer wieder geäußerten Vorwurf, die Pharmaindustrie kümmere sich zu wenig um seltene Erkrankungen. „Die Industrie kann nicht für jede Erkrankung ein Arzneimittel entwickeln. Ich bin zu lange Kaufmann gewesen, um das nicht zu wissen“, sagt Tom Wahlig. Wichtig sei, dass private Initiativen, Industrie sowie Bund und Länder Hand in Hand arbeiteten. Auch Reimann sieht in diesem Bereich weitere Potenziale: „Die öffentliche Hand könnte zum Beispiel die Forschung der Unternehmen durch Bürgschaften absichern, um so die Renditeerwartung zu senken.“ Löschmann sieht diesen Ansatz skeptisch: „Niemand kann für den Erfolg der Forschung bürgen. Aber eine steuerliche Forschungsförderung, wie sie in vielen anderen Ländern bereits etabliert ist, könnte dazu beitragen, die Forschung zu intensivieren.”

Bei allen Ideen und Anstrengungen gilt immer: Forschung lässt sich finanzieren – Erfolg aber nicht garantieren. „Auch verbreitete Krankheiten wie Alzheimer zeigen, dass man Therapien nicht erzwingen kann“, sagt Reimann. Henry Wahlig ist dennoch optimistisch: „Wenn ich sehe, wie viel in den letzten Jahren passiert ist, habe ich schon die Hoffnung, dass in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren der Durchbruch gelingt. Auch wenn das für mich dann nicht mehr rechtzeitig kommt.“

Gentherapie bietet großes Potenzial

Gentherapien könnten der Schlüssel dafür sein. Mit Glybera wurde 2014 die erste Gentherapie gegen eine seltene Erkrankung zugelassen. Das Arzneimittel heilt eine schwere Fettstoffwechselstörung, die Lipoproteinlipase-Defizienz (LPLD), durch einen neuartigen Ansatz: Genetisch veränderte, nicht mehr infektiösen Viren, die die Erbinformation für das fehlendes Enzym in sich tragen, versetzen körpereigene Zellen in die Lage, das Enzym selbst zu synthetisieren. „Solche Therapieansätze mit genetisch veränderten Viren stehen jetzt erst am Beginn des klinischen Einsatzes“, sagt Löschmann. Das Potenzial gerade für den Bereich der seltenen Erkrankungen sei jedoch groß.

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