Grenzen zu Medizinprodukten und Software verschwimmen

Arzneimittel unterliegen in Deutschland höchsten Sicherheitsanforderungen. Sie durchlaufen umfassende Studien und werden von staatlichen Gremien auf Herz und Nieren geprüft, bevor sie zum Patienten gelangen. Durch neue technische Entwicklungen verschwimmen die Grenzen zwischen Arzneimitteln, Medizinprodukten und Software. Die Konformität von Medizinprodukten prüft als Benannte Stelle die TÜV SÜD Product Service GmbH. Dr. Markus Wagner, Department Manager Extracorporeal Circulations AMP1 vom TÜV SÜD, erklärt, wie die Zulassung von neuen Technologien oder medizinischen Apps geregelt ist.

Nach welchen Kriterien unterscheidet der TÜV SÜD Arzneimittel, Medizinprodukte und Software?

Dr. Markus Wagner: Es greifen verschiedene Richtlinien: so die Implantat-Richtlinie, die In-Vitro-Diagnostik-Richtlinie oder die EU-Richtlinie 93/42/EWG. Dort findet man eine sehr genaue Definition für Medizinprodukte, nach der wir die Abgrenzung vornehmen. Medizinprodukte unterscheiden sich von Arzneimitteln vor allem dadurch, dass ihre bestimmungsgemäße Hauptwirkung primär nicht pharmakologisch, metabolisch oder immunologisch, sondern meist physikalisch oder physikochemisch erreicht wird. In bestimmten Fällen wie einem Katheter mit einer Heparinbeschichtung ist zusätzlich eine Konsultation der Arzneimittelbehörde notwendig.

Seit kurzem forschen Mediziner an Nanoschwämmen, die in die Blutbahn injiziert, gefährliche Ausscheidungen von Bakterien aufsaugen. Werden solche Technologien wie Arzneimittel oder als Medizinprodukt behandelt?

Wagner: Persönlich würde ich die Schwämme – ohne ad hoc eine belastbare Aussage machen zu können – als ein Medizinprodukt einstufen. Da sie rein mechanisch die Ausscheideprodukte der Bakterien aufsaugen. Ähnlich geartet sind verschiedene Filter, die Patienten in die Blutbahn eingesetzt werden. Diese werden ebenfalls als Medizinprodukte behandelt.

In solchen Fällen kommt es vor allem auf die Risikoklassifizierung des Produktes an. Wir unterscheiden vier Klassen (I, IIa, IIb, III), wobei die Klasse I eine geringe mögliche Gefahr für den Nutzer darstellt – zum Beispiel bei einem Mundspatel. Klasse III spiegelt dagegen ein hohes Risiko wider wie etwa bei einem implantierbaren Stent, der im zentralen Kreislaufsystem eingesetzt wird.

Bei Klasse I muss der Hersteller die Konformität des Gerätes mit allen Richtlinien selbst nachweisen. Bei Produkten höher als Klasse I benötigt der Hersteller die Mitwirkung einer Benannten Stelle wie der TÜV SÜD Product Service GmbH. Produkte in Klasse III unterliegen dabei der strengsten Bewertung durch die Benannten Stellen. Nanoschwämme wären sicher in einer hohen Klasse einzustufen und daher würden sie sehr umfangreich geprüft.

Medizinische Apps für das Handy, die den Blutzuckerwert messen, Sehtests auswerten oder an die Einnahme von Medikamenten erinnern, erfreuen sich großer Beliebtheit. Unterliegen medizinische Apps irgendeiner Art von Qualitätsprüfung?

Wagner: Viele Apps werden als medizinische Software gesehen, in Wirklichkeit sind es aber Lifestyle-Produkte. Eine App, die misst wie viele Kilometer man laufen muss, um 100 Kalorien zu verbrauchen, ist ein reines Lifestyle-Produkt und muss nicht bewertet werden. Medical Apps dagegen sind echte Medizinprodukte, wie zum Beispiel eine medizinische App zur Darstellung von EKG-Signalen oder eine medizinische App  zur Berechnung und Steuerung von Insulinabgabe bei einer Insulinpumpe. Sie durchlaufen wie alle Medizinprodukte das Konformitätsbewertungsverfahren abhängig von der Risikoklasse, in die sie eingestuft werden. Bei einer hohen Risikoklasse werden umfangreiche Daten und Sicherheitsprüfungen verlangt. Aus meiner Sicht liegt die Gefahr bei Medical Apps eher in der eventuell zu niedrigen Klassifizierung.

Halten Sie bei Apps oder Smartwatches, die Gesundheitsdaten am Handgelenk abnehmen und speichern, neue Zulassungsvorgänge für nötig oder reichen die vorhandenen Maßnahmen zur Qualitätssicherung aus?

Wagner: Meiner Meinung nach reichen die vorhandenen Richtlinien aus. Allerdings stammt die Medizinprodukterichtlinie aus dem Jahr 1993. Da war Hardware noch der Schwerpunkt und Software eher ein Sonderfall. Daher sehe ich vor allem Verbesserungsbedarf bei der Regulierung von Software-Produkten. Bei Standalone-Software, die kein Medizingerät steuert oder beeinflusst, ist die richtige Risikoklassifizierung aufgrund der bisherigen Klassifizierungsregeln oft nicht möglich. In diesen Fällen sollte der Hersteller unter Einbeziehung medizinischer Aspekte die Klassifizierung risikobasiert vornehmen. Ob die in den nächsten Jahren erwartete neue Medical Device Regulation hier mehr Klarheit schafft ist derzeit noch nicht abzusehen.

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