Deutlich wie selten wurde beim 21-sten „Eppendorfer Dialog“ der Carl-Remigius Medical School am Mittwochabend in Hamburg: Die Einschätzungen, die die Kassenvertreter einerseits und die Vertreter von Ärzten, Patienten und der deutschen Pharmaunternehmen andererseits aus den Erfahrungen der letzten zehn Jahre mit den Rabattverträgen gewonnen haben, könnten unterschiedlicher kaum sein.
Große Einsparungen – große Einschränkungen
Christopher Hermann, der Vorstandschef der AOK Baden-Württemberg, wertet die 3,9 Milliarden Euro, die alle gesetzlichen Krankenkassen im Jahr 2016 durch die Rabattverträge nominell eingespart haben, als großen Erfolg der GKV-Seite und ihrer Versicherten. Demgegenüber erklärte der Onkologie-Professor Stephan Schmitz, Vorsitzender des Berufsverbands der Niedergelassenen Hämatologen und Onkologen in Deutschland, im Detail, welche enormen Einschränkungen für die Therapiefreiheit der Krebs-behandelnden Ärzte die Abhängigkeit von den wechselnden Medikationen, die sich aus der Zwei-Jahres-Frist der Rabattverträge ergäben, in der Praxis nach sich ziehen kann.
Gerd Glaeske, Versorgungsforscher an der Universität Bremen und langjähriger Herausgeber des „Arzneimittelreports“, räumte zwar ein, dass die Rabattverträge als Instrument der Kostendämpfung für die Kassen Erfolge gebracht hätten – für die Qualität der Patientenversorgung jedoch deutliche Nachteile. Er forderte, wissenschaftlich endlich exakt zu überprüfen, ob und wo Arzneimittel nach einer kurzen Zeitspanne aus Patientensicht gefahrlos ausgetauscht und durch andere, „neu rabattierte“ ersetzt werden könnten. Das nämlich sei absolut nicht selbstverständlich und führe in nachweisbaren Fällen zu erheblichen Verwerfungen: „Die Formel muss künftig heißen: Wirtschaftlichkeit und Qualität – und nicht Einsparung alleine!“
Ursache für strukturelle Verwerfungen am Arzneimittelmarkt
Auf erhebliche Gefahren anderer, sehr struktureller Art wies Martin Zentgraf hin. Im Bundesverband der pharmazeutischen Industrie (BPI), dessen Vorstand der General Manager der Desitin Arzneimittel GmbH leitet, ist die gesamte Breite der Pharmaunternehmen in Deutschland vertreten – und die, so Zentgraf, seien in der Vergangenheit die Haupt-Leidtragenden der Entwicklung gewesen. Vor allem die mittelständischen deutschen Generikahersteller hätten die Folgen der „Rabattschlacht“ bezahlt – mit zuletzt 3,85 Milliarden Euro Einsparvolumen auf einem Markt, der nur noch rund 7 Milliarden Euro an Wert umfasse, dafür aber den Großteil aller rezeptpflichtigen Arzneimittel liefere, die in Deutschlands Arztpraxen und Krankenhäusern an die Patienten verschrieben würden.
Die Folgen seien sowohl für die einzelnen Unternehmen als auch für die Gesamtheit des deutschen Gesundheitsmarkts gravierend: „Die Rabattverträge sind so, wie sie heute gehandhabt werden, eindeutig mittelstandsfeindlich. Sie führen zu einer steigenden Marktkonzentration, vor allem auf der Ebene der Wirkstoffe, und zu einer wachsenden Oligopolisierung.“ Der enorme Preisdruck, der u.a. auf die Rabattverträge zurückgehe, sei mit dafür verantwortlich, dass immer mehr deutsche Hersteller sich aus wichtigen Bereichen des Generika-Markts zurückzögen. Deren Herstellung gehe mehr und mehr auf Anbieter vor allem aus Fernost über – und in der Folge könne es zu verstärkten Problemen mit Lieferausfällen kommen.
Die Lösung sieht der BPI-Chef aber nicht in einer Abschaffung, sondern einer intelligenten Weiterentwicklung der vorhandenen Instrumente. In einem 10-Punkte-Katalog fordert er u.a.
- die verpflichtende Mehrfachvergabe großer Ausschreibungs-Lose nicht nur an einen, sondern an mehrere Hersteller
- den Ausschluss von Rabattausschreibungen bei Arzneimitteln, für die es weniger als vier Anbieter gibt
- die Berücksichtigung mindestens eines Herstellers mit einer europäischen Produktionsstätte bei jeder Vergabe
- keine Rabattverträge bei Wirkstoffen, die als versorgungskritisch eingestuft sind
Auch in der Politik: offene Ohren für neue Lösungen
Solche Forderungen waren im politischen Umfeld bisher auf wenig Zustimmung gestoßen. Nun aber klang an, dass auch die Bundespolitik in der Frage der Rabattverträge und anderer Markteingriffe umzudenken beginnt. Thomas Stritzl, der für die CDU im Gesundheitsausschuss des Bundestages sitzt, bekräftigte zwar, die Rabattausschreibungen hätten – ganz im Sinne der „politischen Erfinder“ – einen wichtigen Beitrag zur Kostensenkung im Gesundheitswesen geleistet. Der Rückblick auf „10 Jahre Rabattverträge“ zeige aber auch deutlich: „Die Sache hat funktioniert – aber sie kann nicht einfach so weitergehen.“
Denn schon die Zahlen aus dem Generikamarkt zeigten, dass der Zenit der Einsparmöglichkeiten bereits erreicht sei. Und auch das Argument, immer mehr deutsche Hersteller könnten dem zunehmendem Preisdruck auf dem Markt für versorgungswichtige Generika nicht mehr standhalten und gäben ihre Produktion hierzulande auf, müsse angesichts der Entwicklung der letzten Jahre neu gewichtet werden. „Natürlich müssen wir uns in der Politik auch fragen: Wenn wir weiter Ausschreibungen wollen – müssen wir dann nicht auch dafür sorgen, dass die Firmen, die sich an unsere strengen Umwelt- und Sozialauflagen halten, nicht zwangsläufig aus dem Wettbewerb um solche Ausschreibungslose aussteigen müssen?“ Eine Patentlösung allerdings habe man in Berlin dafür noch nicht.
BPI-Chef Martin Zentgraf verstand diese Aussage als ermutigendes Signal: „Die Bundespolitik hat im Arzneimittel-Versorgungsstärkungsgesetz (AMVSG) ja schon teilweise reagiert und versorgungskritische Mittel wie Impfstoffe aus den Rabattverhandlungen herausgenommen. Sie sollte hier mutig weiter vorangehen!“ Und im Fazit war er sich – was nur selten vorkommt – mit dem Versorgungsforscher Glaeske einig: „Wenn die Rabattverträge bei ihrer Einführung unter ähnlich strengen Bedingungen hätten zugelassen werden müssen wie jedes Arzneimittel, dann wäre ihnen die Zulassung wahrscheinlich versagt worden – wegen ungenügender Prüfung der möglichen Nebenwirkungen.“
Foto: Jakob Börner