Es gibt wohl wenig, was Migräne-Patienten mehr auf die Palme bringt, als wenn sie auf ihre „Kopfschmerzen“ angesprochen werden. Denn die Migräne ist weit mehr als das: Sie ist eine schwere neurologische Erkrankung. Die typischen Symptome beschreiben die Betroffenen – es sind mit einem Faktor von 2:1 mehr Frauen als Männer – mit moderaten bis schweren, typischerweise pulsierenden Kopfschmerzen, die sich meist auf eine Körperhälfte konzentrieren. Verbunden sind sie mit Übelkeit und Erbrechen, hoher Empfindlichkeit gegenüber Licht, Geräuschen und Gerüchen. Auch visuelle oder sensorische Wahrnehmungsstörungen gehören dazu.
Als wäre das alles nicht genug, dürfte wohl auch das Unverständnis der Umgebung den Betroffenen das Leben schwer machen. Auf migraine.com kann man den Frust spüren: Der Post „12 Dinge, die man einem Migräne-Betroffenen nicht sagen sollte“ erzählt von Unverständnis („sind doch nur Kopfschmerzen“), gut gemeinten Ratschlägen („nimm doch eine Pille“), Laien-Psychologie („ist ein Frauen-Ding“) und Aufmunterungsversuchen („du schaffst das schon“). Die Migräne hinterlässt tiefe Spuren im Leben der Betroffenen – auch weil sie eine vom Umfeld oft unverstandene Krankheit ist. Kein Wunder also, dass Depressionen unter Migräne-Patienten fast doppelt so oft auftreten, wie unter der Normalbevölkerung. Es ist übrigens auch eine „teure“ Erkrankung. Eine Studie schätzt die direkten und indirekten Kosten der Migräne in Europa auf rund 27 Milliarden Euro.
Die Auslöser der Migräne – bis heute nicht vollständig verstanden
Die Migräne entsteht tief im Gehirn – wie genau, weiß man bis heute nicht. Allerdings ist schon länger bekannt, dass das Neuropeptid CGRP (Calcitonin Gene-Related-Peptide) bei der Schmerzübertragung eine große Rolle spielt. Das belegen zahlreiche Studien: „Während einer Migräneattacke wurden bei Patienten auch erhöhte Plasmaspiegel von CGRP nachgewiesen“, erklärt Dr. Susanne Kraemer. Sie ist Neurologin und Psychiaterin und beim Pharmaunternehmen Lilly Deutschland die Medizinische Leiterin für den Bereich Schmerz. „Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass sich durch Infusion von CGRP experimentell Migräneattacken auslösen lassen, und dass die CGRP-Spiegel bei Patienten mit einer chronischen Migräne dauerhaft erhöht sind.“ Auch die Wirkung von Triptanen – dies sind Arzneistoffe, die bei der Akut-Behandlung von Migräne eingesetzt werden – beruht offenbar darauf, dass sie die Ausschüttung von CGRP hemmen. All diese Erkenntnisse führten zur Entwicklung von monoklonalen Antikörpern gegen das Molekül CGRP und den CGRP-Rezeptor. Aktuell befinden sich mehrere solcher Antikörper in weit fortgeschrittener klinischer Entwicklung.
Für Professor Peter Goadsby vom Londoner Kings College – er war an der klinischen Entwicklung von CGRP-Antagonisten beteiligt – ist das jetzt schon eine Revolution. In Kürze bestehe die Chance, den Patienten eine Migräne-spezifische Behandlung anzubieten, zitierte ihn die Ärzte Zeitung. Susanne Kraemer ergänzt: „Die neuen Antikörper stellen speziell für den Einsatz in der Migräneprophylaxe einen großen Fortschritt dar, weil hier erstmalig spezifische, an der Pathophysiologie der Migräne orientierte Substanzen entwickelt wurden.“ Lilly forscht an dem monoklonalen Antikörper Galcanezumab.
80 Prozent der Patienten brechen die Prophylaxe ab
Aktuelle medikamentöse Behandlungsmöglichkeiten umfassen Akuttherapien, wie Analgetika und die spezifisch wirkenden Triptane. Schwer betroffene Migräne-Patienten, die z.B. zwei oder mehr Attacken pro Monat erleiden und bei denen diese Behandlungsstrategie nicht mehr ausreicht, benötigen eine prophylaktische Therapie. „Wir wissen aber, dass rund 80 Prozent der Patienten die Prophylaxe bereits im ersten Therapiejahr wegen Nebenwirkungen und Verträglichkeitsproblemen abbrechen“, beschreibt Prof. Lothar Färber, Medizinischer Direktor bei Novartis, die Limitationen aktuell verfügbarer Prophylaktika.
Für eine neue, gezieltere, verträglichere und auch wirksamere Migräne-Prophylaxe gibt es also jede Menge medizinischen Bedarf. So wurde in der klinischen Studie „Liberty“, untersucht, was der monoklonale Antikörper Erenumab bei Patienten erreicht, die öfters unter Migräne leiden (4–14 Migränetage pro Monat), die bis zu vier vorherige prophylaktische Migräne-Therapien nicht vertragen haben oder bei denen diese schlicht nicht wirksam waren.
Das Ergebnis: Im Vergleich zu Placebo halbierten sich die monatlichen Migränetage und die Betroffenen mussten seltener auf eine Akut-(Notfall-)Medikation zurückgreifen. Das Nebenwirkungsprofil des Antikörpers wird als „placebo-ähnlich“ beschrieben. „Damit konnte erstmals die Sicherheit und Wirksamkeit eines Anti-CGRP-Antikörpers bei dieser Patientengruppe der schwer behandelbaren Migränepatienten gezeigt werden, die unter einem besonderen Leidensdruck stehen“, so Prof. Färber.
Die neuen CGRP-Antagonisten: Wer wird profitieren?
Die neuen Antikörper wurden zunächst für die Prophylaxe untersucht, die Zulassung des ersten CGRF-Antagonisten wird für dieses Jahr erwartet. Schaffen sie die Zulassungshürden, stehen sie zunächst Patientinnen und Patienten zur Verfügung, die laut medizinischer Leitlinien eine Migräne-Prophylaxe einnehmen sollten. Der Einsatz von CGRP-Antagonisten bei der akuten Migräneattacke wird ebenfalls klinisch untersucht, die Studien sind allerdings noch nicht so weit fortgeschritten.