Allein die in 2018 neu eingeführten Arzneimittel könnten die Budgets der Krankenkassen mit zusätzlichen 53 Milliarden Euro pro Jahr belasten  haben Kassenvertreter ausgerechnet. Mit der Realität hat das aber gar nichts zu tun. Foto: CC0 (Stencil)
Allein die in 2018 neu eingeführten Arzneimittel könnten die Budgets der Krankenkassen mit zusätzlichen 53 Milliarden Euro pro Jahr belasten haben Kassenvertreter ausgerechnet. Mit der Realität hat das aber gar nichts zu tun. Foto: CC0 (Stencil)

Arzneimittelausgaben: Zahlenakrobatik in dünner Luft

Alle Jahre wieder erscheint der Arzneiverordnungs-Report (AVR) und macht mit Untergangsszenarien von sich reden – im Fokus stehen dabei die Mehrausgaben durch innovative, patentgeschützte Arzneimittel. Im AVR 2019 haben die Autoren eine besondere Rechnung aufgemacht: Allein die im Jahr 2018 neu auf den Markt gekommenen Arzneimittelinnovationen könnten den Haushalt der gesetzlichen Krankenkassen um 52,9 Milliarden Euro pro Jahr belasten. Die beiden Gesundheitsökonomen und Professoren Dieter Cassel und Volker Ulrich haben dieses Szenario einem Realitätscheck unterworfen.

Von einer „tickenden Zeitbombe“ hatte AVR-Mitherausgeber Jürgen Klauber auf der diesjährigen Pressekonferenz im September 2019 in Berlin gesprochen und damit „die Preispolitik der pharmazeutischen Industrie für patentgeschützte Arzneimittel“ gemeint. Um die Aussage zu untermauern, haben sich die AVR-Macher in diesem Jahr eine besondere Idee einfallen lassen und die 37 im Jahr 2018 auf den Markt gekommenen neuen Arzneimittel einer so genannten Budget-Impact-Analyse unterzogen. 

53 Mrd. Euro Mehrbelastung: reale Bedrohung oder Fehlalarm? Foto: CC0 (Stencil)
53 Mrd. Euro Mehrbelastung: reale Bedrohung oder Fehlalarm? Foto: CC0 (Stencil)

Soll heißen: Sie haben zu schätzen versucht, was die Einführung dieser neuen Produkte für die Haushalte der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) einmal bedeuten könnte, wenn man die Jahrestherapiekosten eines Präparates mit der Anzahl der für die Behandlung infrage kommenden Patienten multipliziert. Ihr Ergebnis: Fast 53 Milliarden Euro Mehrbelastung. Die Gesundheitsökonomen Cassel und Ulrich haben diese Rechnung nachvollzogen: Ist das Szenario eine reale Bedrohung oder nur ein Fehlalarm? Ihre Untersuchung ist in Implicon erschienen – einer auf gesundheitspolitische Analysen spezialisierten Zeitschrift.

Gut für Patienten: Die Arzneimittelinnovationen im Jahr 2018

Fakt ist: Die 2018er-Generation an Innovationen kann sich sehen lassen. Darunter findet sich etwa ein Anti-CGRP-Antikörper zur Migräne-Prophylaxe – der erste seiner Art. Oder der erste Vertreter der CAR T-Therapie, mit der ein neues Kapitel in der Krebsbekämpfung aufgeschlagen wurde. Oder ein Kombinationspräparat zur Behandlung der zystischen Fibrose (Mukoviszidose) – eine wichtige Innovation für Patienten einer bis heute schwer behandelbaren seltenen Erkrankung, die einen beträchtlichen Zusatznutzen bescheinigt bekam. Mit dabei auch das erste RNAi-Medikament zur erstmaligen Behandlung von Menschen, die unter einer bestimmten Polyneuropathie leiden – eine seltene Erbkrankheit, die unbehandelt zum Tode führt. Neue Medikamente zur Behandlung der Multiplen Sklerose, HIV, ein Drittel der Zulassungen onkologische Präparate, ein rundes Drittel gegen seltene Erkrankungen: Die Innovationsbilanz 2018 ist beeindruckend.

Arzneimittelinnovationen: ein Segen für die Patienten. Foto: ©istock.com/NanoStockk
Arzneimittelinnovationen: ein Segen für die Patienten. Foto: ©istock.com/NanoStockk

Sind diese Innovationen also ein Segen für Patienten, aber gleichzeitig der Sargnagel für die Finanzierbarkeit des GKV-Systems? An drei Arzneimitteln (ein Migräne-, ein MS- und ein Brustkrebspräparat) haben Cassel und Ulrich versucht, die Rechnung der AVR-Autoren nachzuvollziehen. Der Budget-Impact allein dieser drei soll laut AVR 39,3 Milliarden Euro betragen – oder rund drei Viertel der ausgewiesenen 52,9 Milliarden Euro.

  • Für das untersuchte Migränemittel ist im AVR ein Budget-Impact von 30 (!) Milliarden Euro ausgewiesen. Dem liegt laut der in Implicon erschienenen Analyse eine geradezu groteske Überschätzung der Patientenpopulation zugrunde. Cassel und Ulrich halten einen Budget-Impact zwischen 70 und 200 Millionen Euro für realistischer. 
  • Den Budget-Impact für ein neues MS-Präparat halten die Gesundheitsökonomen für mindestens ein Drittel überschätzt, u. a., weil im AVR mit alten Zahlen gerechnet wurde („obwohl ihm der abgesenkte Erstattungsbetrag bekannt war“) und auch hier nach Meinung von Cassel und Ulrich die Zielpopulation überbewertet ist.
  • Noch krasser sieht es bei dem Brustkrebsmedikament aus. Cassel und Ulrich halten die zugrunde gelegten Zahlen für vollkommen unrealistisch und werfen den Autoren zusätzlich einen simplen, aber folgeschweren Rechenfehler vor. Das Ergebnis: Sie kommen bei diesem Beispiel nur auf 8,6 Prozent der vom AVR aufgerufenen Kosten.

Ihre Gegenrechnung hat Limitationen, wie Cassel und Ulrich einräumen. Das kann daran liegen, dass Erstattungsbeträge noch nicht verhandelt sind oder die Marktdurchdringung von neuen Medikamenten natürlich immer etwas von Kaffeesatzleserei hat. Trotzdem zeigt die Gegenrechnung, wie unrealistisch beim AVR gerechnet wurde: Effekte, dass in der Regel nicht alle Patienten die Präparate bekommen, dass Wettbewerb herrscht, dass durch neue Arzneimittel alte verdrängt werden (was man kostenmindernd abziehen müsste) oder dass die Marktdurchdringung immer Zeit braucht, lassen sich nur schwer quantifizieren, haben aber erheblichen Einfluss auf die Ausgaben.

©iStock.com/utah778
©iStock.com/utah778

Vor dem Hintergrund, dass die AVR-Autoren selbst die ausgerechneten 52,9 Milliarden Euro als „absolut unrealistisch“ bezeichnen (AVR 2019, S. 19), fragt man sich, warum diese Rechnung erstens durchgeführt und zweitens auch noch veröffentlicht wurde. Angesichts von Prognosen, die auf Entwicklungen beruhen „die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit anders verlaufen“, stellen sich Cassel und Ulrich die Frage, „ob es wissenschaftsethisch vertretbar ist, mit solchen Konzepten und Berechnungen überhaupt an die Öffentlichkeit zu treten.“ Es ist Zahlenakrobatik in ziemlich dünner Luft. 

Seit Jahrzehnten stabil: Der Anteil der Arzneimittelausgaben

Tatsache ist: Es gab schon viele Untergangsszenarien – eingetreten ist noch keines davon. Auch auf der vorletzten AVR-Pressekonferenz hatten die Herausgeber festgestellt, dass die Arzneimittelausgaben im Jahr 2018 „relativ moderat“ gestiegen waren (3,2 Prozent gegenüber dem Vorjahr; s. das Statement von Prof. Ulrich Schwabe). Hier liegt der Hase im Pfeffer: Denn wie Cassel und Ulrich in ihrer Untersuchung feststellen, macht die Bewertung einer „bestimmten Ausgabenkategorie“ (hier: Arzneimittel) ökonomisch nur Sinn, wenn sie mit der „Entwicklung gleichartiger Ausgaben“ (hier: GKV-Gesamtausgaben) verglichen bzw. in den richtigen Kontext (hier: gesamtwirtschaftliche Wertschöpfung) gestellt wird. Dabei zeigt sich: Der Anteil der Arzneimittelausgaben zeichnet seit Jahrzehnten eine geradezu verstörend langweilige Linie – und schwankt lediglich um wenige Prozentpünktchen. 2018 lag er bei 16,9 Prozent (s. Grafik). 

Das gilt erst recht, wenn man sie in den Kontext des Bruttoinlandproduktes stellt (2018: 1,2 Prozent). Und auch die Kostenanteile patentgeschützter Arzneimittel sind seit Jahren mehr oder weniger gleichbleibend (s. Pharma Fakten). Wären sie „wesentliche Kostentreiber“, müsste sich ihr Anteil auch wesentlich erhöhen. Das tut er nicht, weil der Arzneimittelmarkt dynamisch ist und u.a. jedes Jahr Medikamente ihren Patentschutz verlieren und damit über Nacht sehr günstig werden.

Arzneimittelausgaben auf dem Höchststand?

Vor diesem Hintergrund machen auch Klagen im Stile von „Arzneimittelausgaben auf dem Höchststand“ ökonomisch wenig Sinn, wie Cassel und Ulrich anmerken: „Das tun sie in einer wachsenden Wirtschaft genauso wie etwa Konsum- oder Staatsausgaben. Und wenn dies in einer alternden und arzneimitteltherapeutisch immer besser versorgten Gesellschaft passiert, ist es an sich nicht bedenklich.“

Übrigens gehört auch das seit vielen Jahren zum Ritual: Auf jeder Pressekonferenz beklagen sich die AVR-Autoren darüber, dass ihre „Mahnungen“ in der Politik ungehört verhallen. Das könnte allerdings daran liegen, dass sich Alarmismus, der sich immer wieder nicht bestätigt, abnutzt: Wer bis zum Knöchel im Wasser steht und ständig „Hilfe, ich ertrinke“ ruft, kann nicht dauerhaft mit Aufmerksamkeit rechnen.

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