„antimikrobielle Resistenzen (AMR) […] stellen eine der drängendsten Herausforderungen dar, vor denen nationale Regierungen stehen“, schreiben die Expert:innen der „Global Coalition on Aging (GCOA)“ und „Infectious Diseases Society of America (IDSA)“ in einem gemeinsamen Bericht. „AMR entsteht, wenn sich Bakterien, Pilze, Viren und Parasiten an verfügbare Medikamente – Antibiotika, Antimykotika, antivirale Mittel, Antiparasitika – anpassen. Mit der Zeit werden die Arzneimittel in unserem Arsenal unwirksam“. Die Folgen: „vermehrte Ausbreitung von Infektionen, schwerwiegendere Infektionen und weniger Therapieoptionen“. Es gilt gegenzusteuern. Denn ohne wirksame Antibiotika beispielsweise „werden Kaiserschnitte, Organtransplantationen, Chemotherapien und sogar ambulante Routine-Verfahren zu potenziell lebensbedrohlichen Ereignissen“.
AMR Preparedness Index: Weit von 100 Punkten entfernt
Als eine Art Weckruf hatten die GCOA und die IDSA in Zusammenarbeit mit zahlreichen Wissenschaftler:innen und Fachleuten sowie mit finanzieller Unterstützung durch den Weltpharmaverband IFPMA bereits 2021 den „AMR Preparedness Index“ veröffentlicht. Dazu hatte das Forschungsteam 11 der größten Ökonomien der Welt unter die Lupe genommen und über 7 Kategorien hinweg untersucht, was diese Länder angesichts der wachsenden Gefahr durch AMR tun (s. Grafik).
100 Punkte gab es zu vergeben – erreicht hat sie kein Land. Bei weitem nicht: Spitzenreiter ist das Vereinigte Königreich (UK) mit 76 Punkten. Zu sehen sei hier „ein Wille“ die AMR-Problematik konkret anzupacken: Nicht nur hat der Inselstaat einen „umfassenden National-Plan“ entworfen, der konkrete Strategien und Ziele vorgibt; auch arbeitet die Politik an einem innovativen Bezahl-Modell für neue antimikrobielle Arzneimittel. Und tatsächlich: Seit vergangenem Jahr ist das Vereinigte Königreich das erste Land weltweit, das bestimmten Antibiotika-Herstellerfirmen im Rahmen eines Pilot-Projektes jährlich einen festen Preis bezahlt, der vom Verkaufsvolumen der jeweiligen Präparate losgelöst ist (s. Financial Times).
Der Hintergrund: Die Entwicklung von Antibiotika steht vor großen Hürden – es existiert ein Marktversagen. Schließlich ist die aufwändige und kostenintensive Entwicklung von Wirkstoffen kein Geschäftsmodell, wenn sie nach Zulassung möglichst wenig eingesetzt werden dürfen, um die Entstehung von Resistenzen hinauszuzögern. Wie dieses Dilemma auflösen? Das könnte zum Beispiel über sogenannte „Pull“-Anreize funktionieren – ähnlich dem Vereinigten Königreich wird etwa auch in den USA schon länger über ein „Abo-Bezahlmodell“ im „Netflix-Stil“ diskutiert (Pharma Fakten berichtete). Die Idee dahinter: Den Firmen soll es so möglich gemacht werden, in wichtige Antibiotika-Forschung zu investieren – weil sie nach Zulassung mit Einnahmen rechnen können, auch wenn die erwarteten Verkaufsvolumina insbesondere während der Zeit des Patentschutzes niedrig sind. Für die Regierungen ist es eine Investition, die sowohl kurz- als auch langfristig Früchte tragen soll: Für die aktuell noch relativ seltenen Fälle, bei denen bewährte Präparate nicht mehr anschlagen, haben sie neue Antibiotika zur Hand. Eben diese Antibiotika stehen zudem für eine breitere Anwendung in der Zukunft bereit, wenn sich großflächig Resistenzen gegen einstige Standardmedikamente gebildet haben.
Deutschland: Neue Antibiotika dringend gebraucht
Von solchen Ideen könnte sich Deutschland etwas abschneiden: Im AMR Preparedness Index ist die Bundesregierung – nach UK und den USA – zwar immerhin auf Platz 3. Aber bei 64 von 100 Punkten ist trotzdem viel Luft nach oben (s. Grafik). Die Fachleute von GCOA und IDSA betonen insbesondere, „dass mehr getan werden muss, um die Entwicklung von antimikrobiellen Arzneimitteln zu fördern“.
Tut sich da aktuell etwas? Medien wie der SPIEGEL berichteten jüngst, dass Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach „der Pharmabranche nun mehr Raum bei der Preisgestaltung“ neuer Antibiotika geben und „so die Forschung anregen“ will. Demnach soll es künftig keine gesetzlich vorgeschriebenen Preisverhandlungen mehr zwischen Pharmaunternehmen und Krankenkassen geben. Ob das reicht? Von Seiten der Europäische Union (EU) kommen andere Vorschläge: Laut Handelsblatt gehen die Diskussionen in Richtung eines Gutscheinsystems. Erhält ein Unternehmen die Zulassung für ein neues Antibiotikum, darf es ein anderes Medikament 6 Monate länger marktexklusiv verkaufen. Im kommenden März will die EU-Kommission präsentieren, wie sie sich die Förderung der Antibiotika-Entwicklung künftig genau vorstellt.
Klar ist: Das Thema Arzneimittel-Resistenzen ist komplex; es braucht daher ein Paket an zahlreichen Maßnahmen, um diese Krise unter Kontrolle zu kriegen. Das verdeutlichen die 7 Kategorien, die der AMR Preparedness Index in den Blick nimmt. Vieles funktioniert in Deutschland schon relativ gut. Die Aufklärung und das Bewusstsein für einen verantwortungsvollen Umgang mit Antibiotika haben in Bevölkerung und Ärzteschaft zugenommen, sagen Fachleute. Neu zugelassene Medikamente sind hierzulande schnell verfügbar. Und „deutsche Entscheidungsträger:innen haben dazu beigetragen, dass AMR als Herausforderung auf Weltbühne angekommen ist.“ GCOA und IDSA verweisen etwa darauf, dass die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel auf dem Weltgesundheitsgipfel 2018 über die Thematik gesprochen hatte. Außerdem stellt die Bundesregierung für den Zeitraum von 2018 bis 2028 bis zu 500 Millionen Euro für Forschung und Entwicklung zur Verfügung, um neue Ansätze zur Behandlung von gefährlichen Infektionskrankheiten zu finden.
Das klingt erstmal gut. Und wenn es nach den 3 britischen Mikrobiologen Matthew Hutchings, Andrew Truman und Barrie Wilkinson geht, sieht die „Zukunft der Antibiotika-Entwicklung“ trotz aller Herausforderungen „vielversprechend aus“. Der Grund: neue Technologien wie Genome Editing, die der Forschung einen neuen Schub verleihen können. Trotzdem betonen sie: „Es braucht neue Bezahlmodelle, um zu erreichen, dass aus wissenschaftlichen Fortschritten zugelassene Antibiotika werden.“ Es bleibt abzuwarten, welche Vorschläge die EU-Kommission im März konkret präsentieren wird.
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Arzneimittel verlieren Wirkung: Lösungen für Antibiotikakrise gesucht
2019 starben nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation 1,3 Millionen Menschen weltweit, weil Antibiotika bei ihren Infektionen nicht wirkten. Immer mehr Bakterien werden resistent gegenüber verfügbaren Arzneimitteln. Eine Lösungsstrategie? Neue Wirkstoffe. Pharmazeutische Forschung ist gefragt. Doch die hat es nicht leicht. Ein Ökonom und eine Wissenschaftlerin führen das auf ein „Marktversagen“ zurück. Sie haben ein „Netflix“-Modell entworfen, womit die Politik die Forschung ankurbeln und zahlreiche Todesfälle verhindern könnte.
Impfen gegen die nächste Pandemie
Auf die nächste globale Gesundheitskrise – antimikrobielle Resistenzen gegen Arzneimittel – gibt es keine einfache Antwort. Um zu verhindern, dass lebenswichtige Medikamente unwirksam werden, muss an vielen Stellschrauben gedreht werden. Die Impfrate ist eine davon.
Wirkverlust lebensnotwendiger Antibiotika verhindern
„Eine Zunahme von antimikrobiellen Resistenzen ist vollkommen unausweichlich“, meint Chemie-Professor Christopher Schofield von der britischen Universität Oxford. Die Folge: Medikamente wie Antibiotika drohen ihre Wirkung zu verlieren. „Als Gesellschaft müssen wir Wege finden, um sowohl neue Antibiotika zu entwickeln als auch diejenigen zu schützen, die wir haben. Die Alternative ist, dass die moderne Medizin auf eine so entsetzliche Art und Weise auf den Kopf gestellt wird, wie wir es uns nicht vorstellen können.“ Nun hat ein Team aus Wissenschaftler:innen einen Ansatz gefunden, der bestimmte, unverzichtbare Antibiotika vor dem Wirkverlust bewahren könnte.