Der Leitgedanke ist einfach: Jede Krankheit und jede Komplikation, die nicht sein muss, ist eine zu viel. Ein wichtiger Strategiepfeiler gegen die Gefahr unwirksam werdender Arzneimitteltherapien ist: die Krankheitslast verringern. Weniger Kranke bedeutet weniger Arzneimittel, bedeutet weniger Resistenzrisiken. Das schenkt dringend benötigte Zeit – zum Beispiel, um neue Antibiotika oder Impfstoffe gegen Krankheitserreger zu entwickeln, gegen die kein Kraut (mehr) gewachsen ist. In dem Bericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit dem Titel „Bacterial vaccines in clinical and preclinical development 2021“ heißt es: „Impfstoffe können hochgradig effektive Instrumente sein, um antimikrobielle Resistenzen (AMR) zu bekämpfen. Sie reduzieren Infektionen und reduzieren den Verbrauch von Antibiotika.“
Die nächste Pandemie? Richtig gelesen. Expert:innen weltweit warnen seit Jahren davor, dass medikamentöse Therapien ihre Wirksamkeit verlieren – das gilt für antivirale Medikamente genauso wie für solche gegen Pilze, Parasiten oder Bakterien. Am bekanntesten sind die Antibiotika-Resistenzen: Antibakteriell wirkende Medikamente gelten neben den Impfstoffen als eine der bedeutendsten Errungenschaften der modernen Medizin. Wirken sie nicht mehr, kann eine einfache Infektion – zum Beispiel in Folge einer Operation – fatale Folgen haben.
Die Zahlen sind beängstigend: „Aktuelle Schätzungen gehen davon aus, dass im Jahr 2019 rund 4,95 Millionen Todesfälle auf antimikrobielle Infektionen zurückzuführen sind“, schreibt die WHO in ihrem Bericht. Allein für Europa, USA und Australien liegen die Schätzungen für die Zeit zwischen 2015 und 2050 bei 2,4 Millionen: 2,4 Millionen Menschen werden demnach ihr Leben verlieren, weil Arzneimittel, auf deren Wirkung sie vertraut haben, nicht mehr funktionieren. Es ist ein wenig wie bei der Klimakrise: Das Problem ist erkannt, die Stellschrauben sind identifiziert – im Grunde sind alle Instrumente vorhanden. Doch mit der Umsetzung hapert es. Es hapert sogar gewaltig. Noch immer werden zum Beispiel Antibiotika falsch und zu häufig eingesetzt, noch immer werden in der Tiermast sogar Reserveantibiotika in großem Stil verabreicht.
Was Impfstoffe alles können
Bereits vorhandene Instrumente werden nicht oder zu wenig genutzt, um dieser globalen Gesundheitskrise entschieden genug entgegenzutreten. Impfstoffe sind dafür ein Beispiel: So können antibakteriell wirkende Impfstoffe (z. B. gegen Pneumokokken oder Meningitiden) nicht nur den Menschen selbst, sondern auch die Gesellschaft als Ganzes schützen, wenn die Impfraten hoch genug sind, dass ein Gemeinschaftsschutz entsteht (die so genannte Herdenimmunität). Dadurch kann auch die Entwicklung von Resistenzen eingegrenzt bzw. resistente Stämme in ihrer Verbreitung zurückgedrängt werden.
In den USA konnte in Studien belegt werden, dass die Einführung eines Konjugatimpfstoffes gegen Pneumokokken für Kinder nicht nur die Krankheitslast von Streptococcus pneumoniae bei Unter-2-Jährigen um 84 Prozent verringerte, sondern auch die über 65-Jährigen schützte: Obwohl sie im Rahmen der Impfkampagne gar nicht geimpft wurden, ging bei ihnen die Zahl der invasiven Pneumokokken-Erkrankungen um 49 Prozent zurück. Die einfache Erklärung: Es zirkulieren weniger Viren, der Infektionsdruck sinkt. Streptococcus pneumoniae ist ein immer schwerer zu bekämpfendes Bakterium: Es hat bereits gegen verschiedene Antibiotika-Klassen Resistenzen entwickelt.
Keine gute Entwicklung: Die Impfraten sind zu niedrig
Impfstoffe wirken nur, wenn sie verimpft werden. Doch im Moment gehen die Impfraten eher zurück: Die Zahl der Standardimpfungen sinkt. Das Beratungsunternehmen IQVIA meldete vergangenen Mai, dass in Arztpraxen weniger gegen Grippe, Masern und Mumps, gegen Meningokokken und Pneumokokken geimpft wird (Pharma Fakten berichtete). Angesichts der Erfahrungen, die die Menschen im australischen Winter gemacht haben, wo eine „Super-Grippe“ zirkulierte, sind die Quoten für den Grippeschutz ernüchternd: Deutschland verfehlt das Impfziel – und zwar deutlich. Zwar kann man eine Grippe nicht mit Antibiotika bekämpfen – sie wirken gegen Bakterien und nicht gegen Viren. Aber eine schwere Grippe kann sich schnell zu einer bakteriellen Lungenentzündung verkomplizieren – und spätestens dann sind Erkrankte auf wirksame Antibiotika angewiesen.
Diese Zahlen sind nicht neu. Sie gewinnen aber an Dramatik – angesichts einer alternden Gesellschaft, angesichts von Bedrohungsszenarien durch antimikrobielle Resistenzen, angesichts des Reformdrucks im Gesundheitssystem. Schließlich bedeutet jede vermiedene Krankheit und ihre Komplikation auch weniger Gesundheitsausgaben. Immerhin: Impfen wird in Deutschland zunehmend aus Sicht derjenigen gedacht, die sich impfen lassen wollen. Apotheken dürfen nicht nur gegen COVID-19 impfen, sondern auch gegen die Grippe (Pharma Fakten berichtete). Es bleibt abzuwarten, wann dieses niederschwellige Angebot, dieser „Impfschutz-to-Go“, für andere impfpräventable Krankheiten Standard wird. In anderen Ländern geht das bereits. Der Gedanke dahinter: Wenn die Menschen nicht zur Impfung gehen, muss die Impfung zu den Menschen kommen.
Impfstoffe: Forschung läuft auf Hochtouren
Währenddessen läuft die Forschung auf Hochtouren. Der WHO-Bericht hat 61 Impfstoffkandidaten identifiziert, die sich in verschiedenen Stadien der klinischen Entwicklung befinden und direkt auf die Vermeidung von Infektionen mit resistenten Erregern hin entwickelt werden. Weitere 94 Kandidaten sind in der Präklinik. Gegen 4 von der WHO als kritisch eingestufte Krankheitserreger gibt es zugelassene Impfstoffe. Aber auch die WHO weiß: Die Impfraten sind zu niedrig, um Resistenzen wirklich die Stirn bieten zu können. Nur: „Impfmuffeln“ ist gegen Krankheitserreger, die gegen Arzneimittel immun geworden sind, keine wirksame Strategie.
Weiterführender Link: WHO: Bacterial vaccines in clinical and preclinical development 2021, Juli 2022.
Weitere News
Grippe: Deutschland verfehlt Impfziel
75 Prozent der über 65-Jährigen sollten sich laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) gegen Influenza impfen lassen. In Deutschland wird dieses Ziel weit verfehlt. Besserung ist nicht in Sicht: Die Impfquoten gehen sogar zurück. Das zeigen Daten des Beratungsunternehmens IQVIA.
Influenza: Kommt jetzt die Super-Grippe?
Wenn die Grippewelle, die Australien zurzeit im Griff hat, ein Vorgeschmack auf das ist, was uns in der kalten Jahreszeit erwartet, dann stehen wir vor einer schweren Influenza-Saison.
Prävention stärken: Impfen in der Apotheke
Seit Anfang des Jahres dürfen Apotheker:innen unter bestimmten Voraussetzungen COVID-19-Impfstoffe verimpfen. Es ist eine Regelung, die Ende des Jahres ausläuft. Angesichts der mittelmäßigen Impfquoten in Deutschland fragt man sich warum. Ein Gespräch mit Ramin Heydarpour, Apotheker und Manager beim forschenden Pharmaunternehmen Pfizer.