Die Neuvermessung der Onkologie hat begonnen – zum Start der „Vision Zero“ setzte sich eine Expertenrunde mit Chancen und Defiziten der Klinischen Forschung auseinander. Foto: ©iStock.com/Motortion
Die Neuvermessung der Onkologie hat begonnen – zum Start der „Vision Zero“ setzte sich eine Expertenrunde mit Chancen und Defiziten der Klinischen Forschung auseinander. Foto: ©iStock.com/Motortion

Präzisionsmedizin in ganz Europa?

Noch vor rund 25 Jahren war Darmkrebs einfach Darmkrebs. Heute ist das anders. Forschende haben so viel über die Krankheit gelernt, dass sie sie nach gewissen Eigenschaften unterteilen können. Dieses Wissen ermöglichte die Entwicklung von Medikamenten, die „personalisiert“ einsetzbar sind. Voraussetzung bildet eine präzise Diagnostik. Das Potenzial für die Betroffenen ist groß – doch es wird in Europa nicht vollends ausgeschöpft, zeigt eine Studie.
Präzisionsmedizin: Krebs ist nicht gleich Krebs. Foto: ©iStock.com/CIPhotos
Präzisionsmedizin: Krebs ist nicht gleich Krebs. Foto: ©iStock.com/CIPhotos

Therapie A, B oder C? Lange Zeit konnte ärztliches Fachpersonal bei dieser Entscheidung lediglich Eigenschaften wie das Alter oder biologische Geschlecht eines Menschen, dessen allgemeinen Gesundheitszustand, ggf. die Familienanamnese berücksichtigen. Doch die moderne Diagnostik eröffnet neue Möglichkeiten: So lassen sich inzwischen auch genetische, molekulare und zelluläre Besonderheiten der Erkrankten untersuchen und erfassen. Tests auf einen oder mehrere solcher sogenannten „Biomarker“ können zum Beispiel Hinweis darauf geben, ob eine Person auf ein bestimmtes Medikament anspricht oder es verträgt.

Ein Beispiel: „Krebszellen zeichnen sich gegenüber gesunden Körperzellen durch eine Reihe von Mutationen (also Genveränderungen) aus“, erklärt der Verband der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa). Allerdings haben die Betroffenen derselben Krebsart nicht alle dieselben Mutationen. „Von den Mutationen hängt jedoch ab, ob bestimmte Therapien wirksam sind.“ So gibt es zur Behandlung von fortgeschrittenem Darmkrebs zum Beispiel Medikamente, die nur dann wirken, wenn keine Mutation im KRAS-Gen vorliegt. Vor der Therapie ist daher ein Test auf Basis einer Tumor-Gewebeprobe verpflichtend, der Aufschluss darüber gibt – ganz im Sinne der Präzisionsmedizin. Es ist, so der vfa, ähnlich einem „Tandem“: Medikament und Vortest gibt es nur im Doppelpack.

Präzisionsmedizin: Barrieren in Europa

Doch schafft es dieses Doppelpack auch ans Krankenbett? Die Studie „Unlocking the potential of precision medicine in Europe“, die von dem europäischen Pharmadachverband EFPIA und weiteren Organisationen herausgegeben wurde, stellt fest: „Das Versprechen der Präzisionsmedizin kann sich nicht erfüllen, wenn die Betroffenen keinen Zugang zu Biomarker-Tests haben, welche ihre Eignung für entsprechende Therapien ermitteln.“ Insgesamt sei der Zugang zu solchen Tests in Europa „uneinheitlich“ – das trage zu einem Ungleichgewicht in Sachen Gesundheitsgerechtigkeit bei.

Für die Studie wurde die Verfügbarkeit, Qualität und die Erstattungsfähigkeit von Biomarker-Tests in den 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) sowie dem Vereinigten Königreich (UK) im Bereich Onkologie untersucht. „Länder Nord- und West-Europas schneiden bei Biomarker-Testungen insgesamt gut ab; das reflektiert ihre höheren Investitionen in die Gesundheitsversorgung“, heißt es. In Süd- sowie Zentraleuropa und den Baltischen Staaten sieht es da schlechter aus. Und in „Ländern Osteuropas braucht es bedeutende, strukturelle Veränderungen“, damit auch dort alle Menschen von hochwertigen Biomarker-Tests profitieren.

Der wissenschaftliche Fortschritt trifft vielerorts auf zahlreiche Hürden – finanzieller, struktureller, politischer oder auch gesellschaftlicher Art. So unterscheiden sich die Länder zum Beispiel stark darin, wie schnell pharmazeutische Innovationen nach Zulassung durch die Arzneimittelbehörde EMA auf den jeweiligen nationalen Markt kommen und erstattungsfähig sind. Häufig werden Laborbudgets nicht angepasst, wenn neue Diagnostik- bzw. Biomarker-Tests verfügbar werden; in manchen Regionen mangelt es an Laboren, die diese Tests durchführen können, oder an der Finanzierung. Eine Hürde ist es auch, wenn Ärzteschaft und Patient*innen nicht ausreichend über die modernen Testmöglichkeiten informiert sind.

Foto: ©iStock.com/CIPhotos
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Die Studie gibt zwölf Empfehlungen, wie diese Hürden auf kurze und lange Sicht zu bewältigen sind. Der Zulassungsprozess müsse etwa so gestaltet werden, dass Medikament und jeweiliger Vortest parallel begutachtet werden und grünes Licht bekommen. Ziel ist, dass der Test zur gleichen Zeit in einem Land verfügbar wird wie das zugehörige Arzneimittel. Außerdem müssten die im Gesundheitssystem aktiven Personengruppen (Ärzteschaft, Politik, Selbstverwaltung, Betroffene etc.) Schulungen und Aufklärung in Bezug auf Biomarker-Tests erhalten. Langfristig geht es auch darum, eine zentralisierte Test-Infrastruktur mit einem Netzwerk an spezialisierten Laboren in jedem Land aufzubauen.

Krebs: Innovationstempo aufrechterhalten

Wie Nathalie Moll, Generaldirektorin der EFPIA anmerkt, gibt es „jede Menge Gründe, optimistisch in die Zukunft der Krebsbehandlung zu blicken. Die Arzneimittelentwicklung in der Onkologie schreitet rasch voran – gestützt durch ein deutlich verbessertes Verständnis von den zugrundeliegenden genetischen Krebs-Ursachen.“ An ein Zurücklehnen ist trotzdem nicht zu denken: „Krebs ist in ganz Europa auf dem Vormarsch.“ Daher gilt es, umgehend die notwendigen Rahmenbedingungen für umfassende Biomarker-Testungen zu schaffen, „damit der Nutzen des therapeutischen Fortschritts auch bei den Betroffenen ankommt und das Innovationstempo aufrechterhalten werden kann.“

Von der Präzisionsmedizin können schon heute übrigens nicht nur Krebspatient*innen profitieren. Der vfa zählt zahlreiche Medikamente auf Basis von 86 Wirkstoffen auf, bei denen offiziell und ausdrücklich ein Vor-Test vor Behandlungsbeginn verpflichtend (77) oder empfohlen (9) ist. Darunter sind z.B. Mittel gegen Mukoviszidose, Multiple Sklerose, Spinale Muskelatrophie (SMA), Epilepsie oder HIV.

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