Sie wissen aus eigener Erfahrung, wie wichtig es ist, dass Krebspatient:innen die Behandlungsschritte bei ihrer Therapie mitbestimmen können. Wie kam es dazu?

Traudl Baumgartner: Ich habe im Jahr 2009 zum zweiten Mal eine Brustkrebs-Diagnose bekommen. Damit war es sehr wahrscheinlich, dass ich eine Hochrisiko-Patientin bin, zumal diese Krebsform in meiner Familie schon häufiger vorkam. Für mich stellte sich die Frage, welche Operation ich haben möchte – brusterhaltend oder nicht. Ich habe verschiedene Ärzt:innen gefragt und sie kamen zu unterschiedlichen Ansichten. Von der Größe der Tumoren her war es möglich, brusterhaltend zu operieren. Trotzdem war die Überlegung, vielleicht doch das gesamte Drüsengewebe zu entfernen. Da waren die Empfehlungen nicht eindeutig. Ich war also im Zwiespalt.
Wie hat Ihnen das „Shared Decision Making“-Konzept dann geholfen, zu einer Entscheidung zu kommen?
Baumgartner: Gar nicht. SDM gab es damals als Konzept zumindest an dieser Klinik noch nicht. Es kam eher organisch zustande, dass ich da mitentschieden habe. Ich habe mich erkundigt, was riskiere ich bei einer brusterhaltenden OP und was riskiere ich bei einer Mastektomie, also einer Entfernung der Brust. Es war eher an mir, mich zu erkundigen, ich wurde nicht automatisch genauestens informiert – wie es heute die Ärzt:innen machen, die nach dem SDM-Konzept arbeiten. Ich musste mir alle Informationen selbst einholen. Ich habe mich also bei verschiedenen Mediziner:innen erkundigt und auch bei anderen Frauen, die vor derselben Frage standen. So bin ich auf das BRCA-Netzwerk gestoßen, das Hilfe bei familiären Krebserkrankungen bietet und dessen Vorsitzende ich heute bin. Es war damals viel Arbeit für mich, alle Informationen zu bekommen und zu bewerten – am Ende habe ich mich für eine Mastektomie entschieden.
Ohne Unterstützung durch die behandelnden Ärzt:innen?
Baumgartner: Mir wurde schon psychologische Unterstützung bei der Entscheidungsfindung angeboten, die habe ich auch in Anspruch genommen. Das war eine Hilfestellung. Aber es war nicht so, dass es den Arzt oder die Ärztin gab, die gesagt hätten: „Jetzt überlegen wir gemeinsam. Wir gehen zusammen durch, was Sie bei welchen Entscheidungen erwartet. Welche Vor- und Nachteile hat jede Entscheidung?“ Diese Herangehensweise gab es nicht.
Was sagen Sie den Menschen, die sich an das BRCA-Netzwerk wenden, im Hinblick auf das SDM-Konzept?
Baumgartner: Ich finde das Konzept gut. Es richtet sich aber in erster Linie an Mediziner:innen, die es dann praktizieren sollen. Aber wir beherzigen das Prinzip auch in unseren Beratungen. Da ist es oft so, dass die Empfehlungen nicht immer eindeutig sind. Jede Möglichkeit hat Vor- und Nachteile und man muss entscheiden: Mit welchen Nachteilen kann ich besser leben? Ich sage dann: „Es ist letztlich deine Entscheidung. Wir können jetzt mal durchgehen, was du zu erwarten hast, mit welchen Risiken du umgehen musst bei jedem der Wege, die dir offenstehen. Einen goldenen Weg gibt es nicht, du musst sagen, welcher dir am ehesten taugt.“ Es geht bei uns ja ständig um schwierige Entscheidungen: Gentest zur Abklärung des Krebsrisikos, ja oder nein? Brusterhaltende OP oder Mastektomie, vielleicht sogar prophylaktisch? Eierstöcke raus oder nicht – auch wenn ab einem bestimmten Alter immer empfohlen wird, Eierstöcke und Eileiter bei einer Krebserkrankung zu entfernen? Diese Entscheidungen sind ständig Thema bei uns. Da ist es wirklich wichtig, dass die Frauen gut informiert sind, bevor sie entscheiden – meistens sind es ja Frauen, die zu uns kommen, seltener Männer.
Es gibt auch Patient:innen, die am liebsten die Ärzt:innen entscheiden lassen.
Baumgartner: Das ist auch eine Entscheidung. Man kann sagen, ich will eine Ärztin oder einen Arzt, der mir sagt, was ich tun soll. Das ist auch eine Möglichkeit, das verstehe ich. Es ist kompliziert und belastend, sich damit zu befassen. Andererseits kann sich diese Haltung mit besserer Information auch ändern.
Wie oft kommt es vor, dass jemand seine Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Therapie bereut?
Baumgartner: Das habe ich nur einmal erlebt. Bei einer Frau, die sich vor vielen Jahren nach langem Zögern für eine Mastektomie entschieden hat. Sie war danach zwar erleichtert, weil sie keine Angst mehr vor einer Krebsdiagnose haben musste, aber sie hat trotzdem keine Erleichterung insgesamt verspürt. Für sie war der Verlust zu groß, sie hat es dann bedauert. Bei den meisten ist es so, dass sie hinterher sagen: „Ja, es war nicht leicht, ich empfinde den Verlust, ich empfinde Trauer – aber ich bin froh, dass die Angst kleiner ist oder weg ist.“ Die meisten Menschen finden sich mit dem Ergebnis ab, selbst dann, wenn es nicht so ist, wie sie es sich wünschen. Aber es ist erstaunlich, wie man sich an etwas gewöhnen kann, auch an schlechtes. Da haben wir eine menschliche Fähigkeit, die viel wert ist.
Weshalb ist mehr Mitsprache für die Patient:innen so wichtig?

Baumgartner: Weil man es dann mittragen kann. Darum geht es. Das sind Entscheidungen, die haben Einfluss auf den Rest des Lebens. Ich muss dazu stehen können. Wenn es mir aufgebürdet wurde und ich es über mich ergehen lasse, dann kann es irgendwann zum Vorwurf werden. Auch wenn es um eine Chemotherapie geht oder darum, Medikamente zu nehmen, sollten wir diese Entscheidung so treffen, dass wir auch wirklich dazu stehen können. Sonst hilft es weniger, die Nebenwirkungen sind stärker und die Therapietreue nimmt ab. Wer aktiv mitentschieden hat, kann auch mit einem weniger guten Ergebnis einer OP besser umgehen. Das haben Studien gezeigt.
Was wünschen Sie sich von politischen Entscheidungsträger:innen im Hinblick auf SDM?
Baumgartner: Eine andere und bessere Gesundheitsaufklärung. Das ganze System müsste so umgebaut werden, dass Patient:innen so gut informiert und fair beteiligt sind, dass sie entscheiden können. Gut informiert heißt auch, Informationen so aufzubereiten, dass Menschen sie verstehen. Ärzt:innen und andere medizinische Berufe müssten quasi zweisprachig sein.
Zweisprachig – was meinen Sie damit?
Baumgartner: Ärzt:innen sollten erklären können, was sie tun und warum sie es tun. Sie müssten auch in Sachen „Kommunikation“ geschult sein und ein Gefühl dafür entwickeln, ob es besser ist, langsam und behutsam vorzugehen oder ob sie gleich alle Infos auf den Tisch legen können, weil das Gegenüber sowieso schon neugierig ist und Fragen stellt. Man sollte auch immer darauf achten, was der andere Mensch überhaupt hört, was er oder sie aufnehmen kann. In bestimmten Situationen kann man nicht aufgeklärt werden, weil man nichts versteht. Im Moment der Diagnose oder Befundmitteilung stehen Menschen oft unter Schock, ihre Aufnahmefähigkeit ist deshalb stark reduziert. Ich kann mich noch gut an meine erste Krebsdiagnose erinnern: Der Arzt hat von Lymphknoten und Lymphbahnen gesprochen und sie mit Gleisen und Bahnhöfen verglichen. Das war eigentlich ein gutes Bild, aber ich habe nur Bahnhof verstanden. Er hat mir genau erklärt, was er jetzt machen wird. Ich aber hatte einen starren Blick und hab nur gedacht, hoffentlich halten meine Knie durch, sonst falle ich noch hin. Es wäre besser gewesen, die Therapiemöglichkeiten bei einem zweiten Gespräch durchzugehen – und zwar gemeinsam.
Dafür, so scheint es, fehlt oft die Zeit.
Baumgartner: Gespräche sollten im Gesundheitssystem grundsätzlich viel höher bewertet werden als bisher. Ein gutes Gespräch ist oft viel mehr wert als eine schnelle Knie- oder Hüft-OP. Ich kann aber auch sagen: In jüngster Zeit tut sich etwas im Hinblick auf Patient:innen-Beteiligung.

Was genau?
Baumgartner: Zum Beispiel bei wissenschaftlichen Studien. Da sind Patient:innen inzwischen beteiligt, schon bei der Fragestellung. Wir werden also gefragt, wie wir bestimmte Fragen einschätzen und welche Fragen für uns als Patient:innen wichtig sind. Wir werden schon beim Design einer Studie miteinbezogen – das ist schon mal ein wichtiger Schritt.
Was sollten Menschen nach einer Krebsdiagnose als Erstes tun?
Baumgartner: Sich hinsetzen. Und Menschen finden, die einem zur Seite stehen und die zu Folgegesprächen mitkommen, wenn es um die nächsten Schritte geht. Von ärztlicher Seite wäre es wichtig, immer die Möglichkeit für weitere Gespräche zu eröffnen und eine Anbindung an Informationen zu ermöglichen. Die meisten Menschen wissen zunächst nicht, was sie tun sollen und was alles auf sie zukommt. Sie gehen dann heim und erkundigen sich im Internet. Aber da steht auch vieles, was nicht stimmt. Da wäre es besser, zu wissen, an welche Adressen man sich wenden kann.
Wie lassen sich Ihre Erfahrungen mit SDM zusammenfassen?
Baumgartner: Es ist ein sinnvolles Programm, bei dem aber nicht nur Ärzt:innen, sondern auch die Patient:innen mitmachen müssen. Das kann sehr unterschiedlich aussehen und sollte abgestuft erfolgen. SDM sollte nicht wie ein Hammer verwendet werden: „Entscheiden Sie sich und sagen Sie mir, was Sie wollen.“ Sondern es geht darum, möglichst gute Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Menschen mitentscheiden können.
Weitere News

„Patientenbeteiligung hat hervorragende Effekte“
Viele Patient:innen fühlen sich überfordert, oft auch übergangen, wenn es darum geht, eine Entscheidung zu einer Operation oder Therapie zu treffen. Der Arzt und Unternehmer PD Dr. Jens Ulrich Rüffer möchte das ändern. Er verfolgt ein wissenschaftliches Konzept, das dabei helfen soll, Patient:innen in die Behandlung einzubeziehen: „Shared Decision Making“, kurz: SDM. Wir haben mit ihm über dieses Programm und seine Umsetzung gesprochen.

Unbezahlbar: Das Gesundheitssystem als Reparaturbetrieb
Gesundheits- und Sozialsysteme weltweit stehen unter Druck – und den Menschen werden entweder immer höhere Abgaben zugemutet oder sie werden schlicht nicht nach den Möglichkeiten behandelt, welche die moderne Medizin zur Verfügung hat. Oder beides. Die Begründung: Es fehle an Geld. Aber das stimmt nicht wirklich. Wir müssen nur weg vom Gesundheitssystem als reinem Reparaturbetrieb.

Tabuthema Krebs: Wie über eine fortgeschrittene Erkrankung sprechen?
Brustkrebs ist der häufigste bösartige Tumor bei Frauen. Wenn er bereits gestreut hat, gilt er derzeit als nicht heilbar – dank des medizinischen Fortschritts können aber viele Patient:innen jahrelang damit leben. Doch wie lässt sich über so eine fortgeschrittene Erkrankung sprechen? Worauf sollten Ärzt:innen in der Kommunikation mit den Betroffenen achten? Was ist, wenn zum Beispiel Kinder involviert sind? Darüber tauschte sich eine Expertinnen-Runde auf dem „Mamma Mia! Patientenkongress DIGITAL 2024“ aus.