Hohe 2-stellige Milliardensummen geben die Krankenkassen für die Behandlung der großen Volkskrankheiten aus. Wer das System nachhaltig sanieren will, muss deshalb in die Prävention investieren. Foto: ©iStock.com/SARINYAPINNGAM
Hohe 2-stellige Milliardensummen geben die Krankenkassen für die Behandlung der großen Volkskrankheiten aus. Wer das System nachhaltig sanieren will, muss deshalb in die Prävention investieren. Foto: ©iStock.com/SARINYAPINNGAM

Unbezahlbar: Das Gesundheitssystem als Reparaturbetrieb

Gesundheits- und Sozialsysteme weltweit stehen unter Druck – und den Menschen werden entweder immer höhere Abgaben zugemutet oder sie werden schlicht nicht nach den Möglichkeiten behandelt, welche die moderne Medizin zur Verfügung hat. Oder beides. Die Begründung: Es fehle an Geld. Aber das stimmt nicht wirklich. Wir müssen nur weg vom Gesundheitssystem als reinem Reparaturbetrieb.

Sie ist wahrscheinlich eine der teuersten Erkrankungen überhaupt: Die chronische Nierenerkrankung (CKD), auch als Niereninsuffizienz bekannt. Kaum jemand hat sie auf dem Schirm, aber deutschlandweit dürften mindestens 9 Millionen Menschen betroffen sein. Sie ist einfach zu diagnostizieren und sehr gut zu therapieren. Das passiert aber nicht. Das Ergebnis: unnötiges Leid und horrende Kosten. Die werden in den kommenden Jahren steigen – auf wahrscheinlich rund 10 Milliarden Euro pro Jahr – und das sind nur die Gesundheitskosten. Das nachhaltig zu ändern, das ist kein „Hexenwerk“, wie Dr. Michael Seewald, Medizinischer Direktor beim forschenden Pharmaunternehmen AstraZeneca, im Pharma Fakten-Interview sagt: „Wir müssten nur 2 einfache Tests in den Versorgungsalltag integrieren und nach Diagnosestellung eine medikamentöse Therapie initiieren.“ Studien haben gezeigt, dass es mit modernen Arzneimitteln gelingen kann, eine Blutwäsche (Dialyse) um bis zu 13 Jahre hinauszuzögern. Die CKD: eine schlecht therapierte Krankheit mit milliardenschwerem Sanierungspotenzial zugunsten der Sozialsysteme.

Herz-Kreislauf-Erkrankungen: Killer Nummer 1

Herz-Kreislauf-Erkrankungen: Killer Nummer 1
Herz-Kreislauf-Erkrankungen: Todesfälle könnten vermieden werden. Foto: ©iStock.com/Suphaporn

Beispiel 2: Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems führen eine dunkle Statistik an; keine Krankheit hat mehr Menschen auf dem Gewissen. Und die Kosten? In der EU schlagen Herzinfarkt, Schlaganfall und Co. mit 282 Milliarden Euro im Jahr zu Buche, die zulasten der Gesundheits- und Sozialsysteme gehen. Das hat die London School of Economics and Political Science (LSE) herausgefunden – mit dem Geld könnte man die eine oder andere Zeitenwende finanzieren. Die LSE hat in einem Rechenmodell herausgefunden, was sich tun würde, wenn wir die zentralen Parameter Bluthochdruck, Diabetes, Hyperlipidämie besser einstellen und mehr gegen das Rauchen tun würden. In Deutschland könnten so rund 25.000 Todesfälle im Jahr vermieden werden – eine Stadt von der Größe Lindaus am Bodensee würden sie bevölkern. Für die EU zeigt die LSE-Simulation, dass in den kommenden 10 Jahren 1,2 Millionen tödliche Herzinfarkte und Schlaganfälle vermieden werden könnten, wenn 70 Prozent der Zielgruppe ihre Risikofaktoren besser managen würden. „Das ist eine konservative Schätzung“, sagt Professor Panos Kanavos, Mitautor des LSE-Berichts.

Diabetes – noch so eine stille Epidemie. In der EU sind über 30 Millionen Menschen betroffen; das entspricht der Bevölkerungszahl von Portugal, Kroatien und den Niederlanden zusammen. Alle 46 Sekunden verlieren wir in der EU einen Menschen als Folge einer diabetesbedingten gesundheitlichen Krise. 104 Milliarden Euro kostet die Erkrankung die EU-Gesundheitssysteme im Jahr. Auch hier würden Investitionen in Gesundheitsprogramme Sinn machen – um die Früherkennung zu stärken, mehr Menschen den Zugang zu modernen Arzneimitteln zu erleichtern, um mithilfe digitaler Technologien den Kampf gegen die Erkrankung gezielter und effizienter zu führen.

Übergewicht? Globale Kosten von rund 1.000 Milliarden US-Dollar

Professor Dr. Jürgen Wolf
Professor Dr. Jürgen Wolf. Foto: ©Johannes Jost

Beispiel Numero 4: Übergewicht bzw. starkes Übergewicht hat mittlerweile jeder 8. Mensch auf dem Planeten. Adipositas ist längst ein globales Public-Health-Problem. In Deutschland gilt jede 8. Frau und jeder 10. Mann als adipös – ein Risikofaktor für Diabetes, Bluthochdruck, für Krebs-, Muskel- oder Gelenkerkrankungen. Auf fast 1.000 Milliarden Dollar (!) schätzt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die globalen Kosten; gleichzeitig hat sie berechnet, dass diese Ausgaben halbierbar wären, gelänge es, die Prävalenz zwischen 2020 und 2060 um 5 Prozent zu senken.

Und natürlich darf in der Liste Krebs nicht fehlen, ein Sammelbegriff für rund 200 bösartige Tumorerkrankungen, eine Indikation, von der Expert:innen erwarten, dass sie bald die Herz-Kreislauf-Erkrankungen vom ersten Platz der häufigsten Todesursachen verdrängen könnten: Schon demografiebedingt werden die Fallzahlen steigen. Die Zukunft hat bei der Krebsbekämpfung bereits begonnen, sagen Onkolog:innen. Gen- und Immuntherapien revolutionieren die Art und Weise, wie Menschen mit Krebs behandelt werden. Beispiel Lungenkrebs? „Wir sehen seit ein paar Jahren einen sensationellen Fortschritt“, sagt Professor Dr. Jürgen Wolf im Pharma Fakten-Interview. „Früher wurde zur Therapie in den fortgeschrittenen Stadien maßgeblich die Chemotherapie eingesetzt. Das brachte ein medianes Überleben von rund 10 bis 12 Monaten. Heute sehen wir bei Menschen mit gestreutem Krebs Überlebenszeiten von 5, 7 und mehr Jahren. Wir haben jetzt schon Patienten mit metastasiertem Lungenkrebs, die 10 Jahre leben und das mit 2 Tabletten am Tag.“ Aber: Ein Drittel der Patient:innen wird nicht erreicht – sie werden nicht molekular getestet und erfahren nie, ob eine solche moderne Therapie für sie in Frage gekommen wäre.

Onkologie: „Nicht nur Reparaturmedizin betreiben“

Professor Dr. Christof von Kalle vom Berlin Institute of Health (BIH) in der Charité
Professor Dr. Christof von Kalle, BIH in der Charité. Foto: BIH/Stefan Zeitz

Prof. Michael Baumann, Vorstandsvorsitzender des DKFZ, erklärte auf einer Veranstaltung des Tagesspiegels: „Durch Früherkennung und Prävention gemeinsam könnten wir in Deutschland ungefähr 60 Prozent aller Krebstodesfälle vermeiden“, man dürfe „nicht nur Reparaturmedizin betreiben.“ Auch für die Onkologie ist zu konstatieren: Es gibt systembedingtes Leid, das sich ein Land wie Deutschland weder leisten sollte noch leisten kann.

Im Pharma Fakten-Gespräch betont Professor Dr. Christof von Kalle vom Berlin Institute of Health (BIH) in der Charité: „Wenn das Kind in den Brunnen gefallen und Patienten ernsthaft krank geworden sind, laufen wir zu Höchstleistungen auf. Aber Medizin als Reparaturbetrieb ist auf Dauer unbezahlbar und auch nicht so erfolgreich wie sie sein könnte.“ Deshalb habe man in der ersten Hälfte der „Dekade gegen Krebs“ die Prävention intensiv thematisiert. „Die deutsche Krebshilfe, das Forschungsministerium für Bildung und Forschung und das Deutsche Krebsforschungszentrum bündeln ihre Anstrengungen jetzt durch die Einrichtung eines Nationalen Krebspräventionszentrums.“ Von Kalle ergänzt: „Es ist richtig und wichtig, jetzt gerade auch in der Versorgung massiv in die Prävention zu investieren und innovative Gesundheitsprogramme aufzulegen, die auf Krankheitsvermeidung, Früherkennung und leitliniengerechte Therapie setzen.“ Er sieht dadurch mittelfristig eine milliardenschwere Entlastung für die Kranken- und Sozialkassen. „Es fördert ein Gesundheitssystem, das die Gesundheitserhaltung nicht nur im Namen trägt. Wirklich den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen heißt, Krankheiten zu vermeiden, bevor sie entstehen, oder sie zumindest möglichst früh zu therapieren.“

Prävention: Jeder Euro als Beitrag zur Stabilisierung der GKV

5 Beispiele aus der Medizin – und die Liste ist nicht annähernd vollständig. Aber sie nährt stark den Verdacht, dass jeder zusätzliche in Prävention und Früherkennung investierte Euro einen aktiven Beitrag zur „stabilen, verlässlichen und solidarischen Finanzierung der GKV“ leisten würde, wie es in den Empfehlungen des Bundesgesundheitsministeriums heißt. Das Ergebnis könnte ein Gesundheitssystem sein, das deutlich effizienter deutlich bessere Ergebnisse zeitigt. Denn wir leisten uns zwar eines der teuersten Systeme der Welt, schneiden in Sachen Lebenserwartung im europäischen Vergleich aber bescheiden ab – Platz 18, wie die Zahlen von Statista zeigen. Das Ergebnis könnte ein Gesundheitssystem sein, in dem die GKV-Sanierung vom Menschen her gedacht wird – in Form einer besseren Medizin statt nur durch höhere Abgaben bzw. Leistungskürzungen.

Der Bundesgesundheitsminister hat bereits mehr Prävention versprochen und neben dem Aufbau des Präventionsinstituts BIPAM auch ein Gesetzgebungsverfahren zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen angekündigt, das die Früherkennung und frühzeitige Behandlung stärken will. Ob das funktioniert? Seine Kritiker:innen stehen schon bereit: Es wird unter anderem bezweifelt, dass ein sich einzelne Indikationen herauspickender Weg der richtige ist.

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