Es war der 1. April 2012: An diesem Tag veränderte sich das Leben von Orlaith, Ciaran und Kathleen Staunton schlagartig. Ihr Sohn und Bruder Rory starb in einem New Yorker Krankenhaus. Noch wenige Tage zuvor war er ganz gesund gewesen. Doch am 28. März hechtete der 12-Jährige im Sportunterricht einem Ball hinterher – die Folge: eine Schnittverletzung am Arm.
Gleich mehrere Fehler trugen laut den Eltern dazu bei, dass diese einen tödlichen Ausgang nahm: Die Lehrkraft versorgte demnach den Jungen – ohne die Wunde zu säubern – mit Pflastern, anstatt ihn zur Pflegekraft der Schule zu schicken. Die Kinderärztin, die Rory am nächsten Tag untersuchte – bereits mit Symptomen wie Fieber und gefleckte Haut – erkannte die Anzeichen einer Sepsis nicht. Sie vermutete ein Magenvirus. Das Personal in der Notaufnahme eines Krankenhauses traf den Eltern zufolge eine ähnliche Annahme und schickte den Jungen nach Hause, bevor jemand einen Blick auf die Ergebnisse der Blutuntersuchung geworfen hatte. Die Werte hätten gezeigt, dass Rory schwerkrank war – doch diese Information wurde der bereits entlassenen Familie nicht übermittelt. So beschreiben die Stauntons auf der Website endsepsis.org die Geschehnisse.
Am nächsten Tag hatte sich der Zustand des Kindes so verschlechtert, dass es direkt auf die Intensivstation kam. Die Erkenntnis: „Rory kämpfte gegen eine schwere Infektion an. Diese Infektion war schon in seinem Blut gewesen, als wir ihn zur Kinderärztin und zum ersten Mal ins Krankenhaus gebracht hatten. Bakterien waren über die Schnittverletzung an seinem Arm ins Blut gelangt. Rory war in einem septischen Schock.“ Die Eltern ergänzen: „Wenn die Öffentlichkeit über Sepsis informiert gewesen wäre, wäre unser Sohn noch am Leben.“ Sie setzen daher seit 2012 alles daran, die Menschen aufzuklären – nie wieder soll so etwas passieren.
10 Jahre vereint gegen Sepsis
Zehn Jahre später zeigt sich: Noch immer sterben weltweit 11 Millionen Menschen pro Jahr an einer Sepsis. Nicht eingerechnet sind da die zusätzlichen Fälle, die COVID-19 zuzuschreiben sind. Denn grundsätzlich kann eine Sepsis aus jeder Infektion entstehen – also sowohl von bakteriellen als auch von viralen Erregern, Pilzen oder Parasiten ausgelöst werden. Die Sepsis-Stiftung erklärt: „Sepsis ist die schwerste und immer lebensbedrohliche Zuspitzung (Komplikation) von Infektionserkrankungen. Sepsis – oft auch Blutvergiftung genannt – entsteht, wenn die körpereigene Abwehrreaktion gegen in die Blutbahn eindringende Infektionserreger aus dem Ruder läuft und beginnt, das eigene Gewebe und die eigenen Organe zu schädigen. Die Folgen einer Sepsis sind Schock, Multiorganversagen und Tod, vor allem wenn die Symptome nicht früh genug erkannt und sofort behandelt werden.“ Zu den Frühzeichen, auf die man – insbesondere bei Vorliegen einer Infektion – achten sollte, gehören: „Ein nie gekanntes schweres Krankheitsgefühl, Müdigkeit, Apathie, plötzlich auftretende Verwirrtheit, schnelle, schwere Atmung, eine erhöhte Pulsrate, stark gesunkener bzw. niedriger Blutdruck, kalte, fleckige Haut an Armen/Beinen“.
Traurige Wahrheit ist: Viele Sepsis-Todesfälle wären vermeidbar – würden Infektionen (etwa durch Impfungen) von vornherein verhindert oder zumindest frühzeitig behandelt. Um dafür das Bewusstsein zu schaffen, hat die Global Sepsis Alliance am 13. September 2012 – ebenfalls vor 10 Jahren – zum ersten Mal den Welt-Sepsis-Tag ins Leben gerufen. Trotz der 11 Millionen Todesfälle pro Jahr ist es nicht so, dass in dieser Zeit nichts passiert wäre: Niranjan ‘Tex’ Kissoon, Präsident der Global Sepsis Alliance, und Prof. Konrad Reinhart, Vorsitzender der Sepsis-Stiftung, schreiben in einem gemeinsamen Beitrag: „Das Bewusstsein für das Thema Sepsis hat weltweit deutlich zugenommen.“ Ein „Meilenstein“ wurde in dieser Hinsicht im Jahr 2017 erreicht: Die World Health Assemby (WHA), das höchste Entscheidungsgremium der Weltgesundheitsorganisation (WHO), hat damals den Beschluss gefasst, Sepsis als ein vorrangig zu bekämpfendes Gesundheitsproblem einzustufen. „Aber bis heute folgen nur wenige Regierungen dieser Handlungsaufforderung: Viele Nationen müssen erst noch konkrete Maßnahmen in ihren Gesundheitssystemen implementieren, um Sepsis zu einer Priorität zu machen.“
Sepsis: Viele Fälle in ärmeren Ländern
WHO-Chef Dr. Adhanom Ghebreyesus Tedros heißt es daher willkommen, dass die Gesundheitsminister:innen der G7-Staaten (Deutschland, Frankreich, Italien, Japan, Kanada, USA, Vereinigtes Königreich) im Mai 2022 unter anderem erklärt haben, dass sie ärmere Länder im Kampf gegen Sepsis unterstützen wollen.
„Circa 85 Prozent der weltweiten Sepsis-Fälle und -Todesfälle treten in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen auf“, sagt Achim Steiner, Administrator des „United Nations Development Programme“. Sepsis kann jeden treffen – besonders gefährdet sind aber vulnerable Gruppen wie Senior:innen, Neugeborene und Menschen mit Vorerkrankungen. Das gilt umso mehr für Länder mit instabilen Gesundheitssystemen und mangelhaften Möglichkeiten der Infektionsprävention. „Wir wissen: Der Kampf gegen Sepsis ist essenziell, um die Ziele für Nachhaltige Entwicklung [der Vereinten Nationen] zu erreichen.“ Schließlich geht es unter anderem darum, die Kindersterblichkeit zu senken. Steiner weiß um die Bedeutung von Prävention: Wichtig sind Hygienemaßnahmen, sodass Menschen weltweit sauberes Trinkwasser und sanitäre Anlagen zur Verfügung haben. Wichtig sind zudem Arzneimittel und Impfstoffe, „die das Risiko für eine Infektion reduzieren“. Er verweist auf die Arbeit der Impfallianz GAVI, „die über öffentlich-private Partnerschaften Immunisierungsprogramme in Entwicklungsländern fördert“. Ein anderes Beispiel ist die COVAX-Initiative, „die 1,6 Milliarden Dosen von COVID-19-Impfstoffen in 146 Länder geliefert hat“. Es gilt: Ohne Infektion droht keine Sepsis.
Weitere News
Könnte es eine Sepsis sein?
„Alle sieben Minuten stirbt in Deutschland ein Mensch an einer Sepsis“, heißt es auf der Seite der Kampagne „Deutschland erkennt Sepsis“, die das „Aktionsbündnis Patientensicherheit“ gemeinsam mit weiteren Organisationen im Februar gestartet hat. Sie soll über die Blutvergiftung aufklären. Denn viele Todesfälle wären vermeidbar – durch frühzeitige Erkennung, Präventionsmaßnahmen und bessere Behandlung. Alle sind gefragt: von der Bevölkerung, über das Personal in ambulanter sowie stationärer Gesundheitsversorgung, bis hin zur Politik. Durch die Coronapandemie erfährt das Thema besondere Dringlichkeit.
Sepsis: Eine globale Gesundheitskrise
Sepsis ist pro Jahr für mindestens elf Millionen Todesfälle weltweit verantwortlich – alle 2,8 Sekunden einer. Doch das Wissen über die Blutvergiftung ist gering; oft wird sie zu spät erkannt. Mit dem jährlichen Welt-Sepsis-Tag am 13. September möchte die Non-Profit-Organisation „Global Sepsis Alliance“ (GSA) daher aufklären – und lässt Betroffene zu Wort kommen.
Sepsis in Deutschland: Bis zu 20.000 vermeidbare Todesfälle
In Deutschland wird die Sepsis dramatisch unterschätzt. Die Folgen sind bis zu 20.000 vermeidbare Todesfälle pro Jahr – oder 55 Tote pro Tag. Das Uniklinikum Greifswald zeigt mit seinem Programm „Sepsisdialog“, wie man es besser machen kann. Die Sepsis ist weltweit die Nummer Eins unter den vermeidbaren Todesursachen.