Corona- Grippe- und RSV-Viren, dazu Personal- und Arzneimittelmangel – diese Mischung brachte im vergangenen Herbst viele Kinderärzt:innen an ihre Belastungsgrenze. Was erwarten Sie für diesen Herbst und Winter?
Prof. Dr. Dominik Schneider: Ich hoffe immer nur das Beste. Letztes Jahr fing die RSV-Welle ungewöhnlich früh an und auch die Influenza-Welle kam schon vor Weihnachten. Das war ungewöhnlich und sorgte für eine Doppelbelastung. Hinzu kamen nachgeholte Infektionen aus der Zeit, in der alle Masken trugen und Abstand hielten. In diesem Jahr haben wir noch keine RSV-Welle, es geht also deutlich später los. Wir hatten einen ungewöhnlich langen Sommer mit trockenem Wetter, das war gut für die Atemwege. Bislang haben wir also nicht so viele Infektionen – allerdings sehen wir seit Längerem ungewöhnlich viele Kinder mit schweren Lungenentzündungen und auch mit anderen bakteriellen Infektionen.
Haben Sie dafür eine Erklärung?
Schneider: Es gab vergangenes Jahr Hinweise, dass Streptokokken-Infektionen und auch bestimmte andere bakterielle Infektionen häufiger aufgetreten sind. Bislang liegen noch keine Daten vor, um sagen zu können, weshalb das so ist. Aber insgesamt sehe ich in diesem Herbst bis jetzt keine gesteigerte Infektwelle. Für mich ist das im Moment noch ein Herbst, wie wir ihn auch von der Zeit vor Corona kannten.
Trotzdem gibt es in der Kinder- und Jugendmedizin viele Probleme – welche sind das und wie können sie gelöst werden?
Schneider: Die Probleme sind vielfältig. Das größte ist der bereits bestehende Personalmangel in der Kinder- und Gesundheitskrankenpflege, der sich noch verschärfen wird. Hier stehen wir gerade erst am Beginn einer Katastrophe. Im Zuge der Pflegeberufereform wurde die spezialisierte Kinder- und Gesundheitskrankenpflege durch eine generalisierte Ausbildung ersetzt. Es gibt zwar noch Vertiefungs- und Spezialisierungsansätze, aber insgesamt werden viel weniger Pflegekräfte für Kinder ausgebildet als früher.
Gibt es dazu konkrete Zahlen?
Schneider: Es sind ungefähr 700 Absolvent:innen weniger pro Jahr als vor der Generalistik. Schon vor eineinhalb Jahren hatten wir in Deutschland über 3.000 unbesetzte Stellen – und das wird jetzt von Jahr zu Jahr schlimmer. Zugleich gehen die Bewerbungen zurück, es gibt so gut wie keine Initiativbewerbungen mehr. Die neu ausgerichtete Pflegeausbildung war eine strukturelle Fehlentscheidung – und jetzt stehen wir leider genau da, wovor wir in der DGKJ immer gewarnt haben.
Was müsste geschehen, um den Personalmangel zu beheben?
Schneider: In einer idealen Welt würden wir die Uhr zurückdrehen und sagen, wir führen die Kinderkrankenpflege wieder komplett als eigenständigen Beruf ein. Denn es ist ein wunderbarer Beruf, der auch wunderbare Menschen anzieht. Aber die ideale Welt ist nicht immer mit der realen Welt im Einklang. Wir müssen also zusehen, dass wir auch bei einer generalisierten Ausbildung noch Menschen gewinnen, die sich für die Arbeit mit Kindern begeistern. Um das zu erreichen, sollten in der Pflege bessere Arbeitsbedingungen herrschen. Und natürlich müssen Pflegekräfte besser bezahlt werden. Und wir müssen – trotz der Notwendigkeit von Schichtdiensten – familienfreundliche Arbeitsmodelle entwickeln. Etwa Teilzeitmodelle.
Gilt das auch für den Arztberuf?
Schneider: Selbstverständlich. Im ärztlichen Bereich wird es ebenso problematisch, denn jeder vierte Kinder- und Jugendarzt wird in den kommenden 5 Jahren das Ruhestandsalter erreichen. Auch hier müssen wir Arbeitsbedingungen schaffen, die für die Mitarbeitenden interessant sind und junge Kolleg:innen anziehen. Kinder und Jugendmedizin ist ein sehr attraktives Fach, es ist das breiteste Fach der Medizin – wir machen alles bei Kindern, von der allgemeinärztlichen über die hochspezialisierte Versorgung bis hin zur Frühgeborenen- und Intensivmedizin. Allerdings haben wir einen sehr hohen Personalaufwand, bei Ärzt:innen und bei Pflegenden. Denn wir arbeiten ja sehr zuwendungsorientiert, jeder einzelne Schritt – Blut abnehmen, Tropf legen, Trost spenden – ist bei Kindern viel aufwändiger und bindet mehr Personal als bei Erwachsenen. Wenn wir aber den Personalaufwand nicht decken können, wird es für die verbliebenen Kräfte umso stressiger. Vor allem, wenn mal wieder eine Infektionswelle rollt.
Was halten Sie von der geplanten Neuregelung der Krankenhausfinanzierung, bei der es zumindest teilweise so genannte Vorhaltepauschalen geben soll?
Schneider: Wir sollten so finanziert werden wie die Feuerwehr – also einen Grundbetrag dafür erhalten, dass wir da sind. Die Vorhaltepauschale setzt das um und ist deshalb auch sinnvoll. Politischer Konsens scheint derzeit zu sein, dass künftig 60 Prozent des Abrechnungsbudgets als Vorhaltepauschale finanziert werden – zugleich werden die Fallpauschalen auf 40 Prozent des Gesamtvolumens abgesenkt. Diese und andere Regelungen halte ich grundsätzlich für sinnvoll. Wir müssen aber bei der Reform auch darauf achten, dass die Besonderheiten der Kinder- und Jugendmedizin und ihre fachliche Breite angemessen abgebildet werden. Das sehe ich derzeit noch nicht sichergestellt.
Wie sieht es in diesem Jahr mit der Arzneimittelversorgung von Kindern aus?
Schneider: Besser als im vorigen Jahr, als sogar Grundmedikamente gefehlt haben, von Fiebersäften bis zu einigen Antibiotika. Es war wirklich teilweise so, dass wir die Apotheken angerufen und gefragt haben, welche Antibiotika es noch gibt – das war oft eine ziemlich kurze Liste. Das hat sich deutlich verbessert, wir gehen jetzt optimistischer in den Herbst.
Was muss langfristig geschehen, damit Kinder und Jugendliche optimal ärztlich versorgt werden können?
Schneider: Wir müssen Mauern einreißen zwischen der stationären und der ambulanten Versorgung. In der Notfallversorgung ist es heute schon so, dass viele Kliniken mit den Niedergelassenen gemeinsame Notfallambulanzen anbieten. Solche Versorgungsmodelle brauchen wir. Kliniken und niedergelassene Ärzt:innen sollten enger zusammenarbeiten. Ein niedergelassener Kinder- und Jugendarzt ist so sehr mit der Basispädiatrie, mit der Vorsorge, den Impfungen, auch mit der Notfallversorgung beschäftigt, dass nur wenige es schaffen, zusätzlich spezialärztliche Versorgung anzubieten – zum Beispiel in der Behandlung chronischer Darmerkrankungen, rheumatologischer Erkrankungen oder Herzerkrankungen. Ich glaube, da muss eine gute Vernetzung zwischen den Klinikambulanzen und den Praxen bestehen. Dieses Miteinander, das Vernetzen zwischen ambulanter und stationärer Versorgung, wird immer wichtiger.
Sie haben kürzlich gesagt, Kindermedizin sollte als „Investition in die Zukunft“ verstanden werden – was meinen Sie damit konkret?
Schneider: Ein Beispiel: Kinder- und Jugendärzt:innen sprechen über Ernährung in den ersten Monaten, wie lange stille ich, wie führe ich Beikost ein, was biete ich meinen Kindern zu essen an, wie ist der Kostaufbau über die Jahre – das alles hat Einfluss auf die spätere Ernährungsgesundheit, auf Nahrungsunverträglichkeiten und späteres Übergewicht. Auch die Vorsorge-Untersuchungen sind wichtig für die weitere gesundheitliche Entwicklung. Aber natürlich ist auch die Behandlung kranker Kinder eine Investition in die Zukunft. Wir haben hier gerade einen zweijährigen Jungen mit einer Leukämie. Wenn wir ihn erfolgreich behandeln und wieder gesund machen – die Chance dafür liegt bei 90 Prozent – dann hat dieser Junge danach noch 80 Jahre zu leben. Anders gesagt: Was ich in der Kinder- und Jugendmedizin mache, hat im Guten wie im Schlechten Konsequenzen. Ich habe heute eine Mail bekommen von einem Patienten, dessen Leukämie ich vor 32 Jahren behandelt habe. Er schrieb, dass er jetzt 40 Jahre alt ist, eine Tanzschule betreibt und es ihm gut geht. Solche Rückmeldungen motivieren mich unglaublich, denn ich bin überzeugt: Was wir Kinderärzte machen, wirkt auf Jahrzehnte nach.
Und es entlastet die Krankenkassen, wenn die Kinder als Erwachsene ein gesundes Leben führen.
Schneider: Umso betrüblicher finde ich die Misstrauens- und Prüfkultur des medizinischen Dienstes der Krankenkassen, die viel Zeit in Anspruch nimmt und die Arbeit in den ohnehin überlasteten Praxen und Kliniken erschwert.
Was meinen Sie damit?
Schneider: Ich bekomme jeden Tag ein halbes Dutzend Anfragen, in denen zum Beispiel steht: „Hätte das Kind nicht schon drei Tage früher aus der Klinik entlassen werden können?“ Für mich ist aber unabhängig von der Behandlungsdauer entscheidend, ob ein Kind fit genug ist, um nach Hause zu gehen. Natürlich muss Wirtschaftlichkeit sein, aber man sollte uns einfach mal zugestehen, dass wir die Kinder so behandeln wie es sein muss und sie nicht aus Gewinnstreben in Krankenhausbetten halten.
Viele Eltern suchen – vor allem im ländlichen Raum – vergeblich nach einer Kinderarztpraxis in der Nähe. Was raten Sie diesen Eltern?
Schneider: Heiraten Sie einen Kinderarzt und holen Sie ihn in die Familie. Nein, im Ernst: Man muss sich nach regionalen Netzwerken erkundigen. Es gibt in solchen Gegenden mitunter auch Allgemeinmediziner, die eine Basisversorgung für Kinder anbieten können. Wenn das nicht der Fall ist, muss man tatsächlich weitere Fahrten zum Kinderarzt in Kauf nehmen. Vieles lässt sich aber auch in der Videosprechstunde klären. Wenn Ihr Kind Fieber hat, kann ein erfahrener Arzt sagen, was Sie tun sollten – und ab wann es sinnvoll ist, in die Praxis oder Klinik zu kommen.
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