Der Bundestag hat kurz vor der Sommerpause das Medizinforschungsgesetz beschlossen. Wird es den Forschungs- und Pharmastandort Deutschland stärken?
Dr. Jasmina Kirchhoff: Gute Frage. Wir haben in der Vergangenheit gesehen: Der Pharma-Standort Deutschland ist ja an sich sehr gut, aber im Vergleich zu anderen globalen Wettbewerbern an vielen Stellen deutlich zurückgefallen – etwa bei den Forschungsaufwendungen, den Patent-Aktivitäten oder bei den klinischen Studien. Wir haben es mit einer Reihe von Standort-Nachteilen zu tun, die den pharmazeutischen Forschungsstandort schwächen. Das Medizinforschungsgesetz kann uns, vor allem in Kombination mit den Digitalgesetzen, auf einen guten Weg führen, um hier wieder aufzuholen. Denn es werden tatsächlich wichtige Punkte angegangen.
Welche sind das?
Kirchhoff: Hier müssen wir uns zunächst einmal fragen: Was sind die Schwächen hier am Standort? Warum haben es pharmazeutische Unternehmen so schwer, hier zu forschen, zu entwickeln und zu produzieren?
Und wie lautet die Antwort?
Kirchhoff: Es liegt im Wesentlichen an hohen bürokratischen Hürden, die auch noch sehr unübersichtlich sind. Andere Länder sind da häufig pragmatischer in der Ausgestaltung ihrer Bürokratie. Außerdem haben wir ein Problem mit der Digitalisierung, die nicht in Gang kommt. Und wir haben Probleme mit dem Fachkräftemangel, der pharmazeutische Unternehmen immer stärker betrifft. Die Regulatorik rund um Marktzugang und Erstattung war in den letzten Jahren auch wenig verlässlich. Zusammengefasst: Wir sind an vielen Stellen insgesamt zu langsam, zu teuer, zu schwerfällig.
Wie genau kann das Medizinforschungsgesetz diese Zustände ändern?
Kirchhoff: Indem es an vielen Stellen den richtigen Weg geht. Konkret heißt das unter anderem: Klinische Studien werden einfacher und schneller gestaltet, auch dadurch, dass die Arzneimittelzulassungsbehörden besser zusammenarbeiten sollen. Dabei geht es auch um den vielfach diskutierten Punkt, dass Ethikkommissionen, von denen wir ja sehr viele haben, harmonisiert werden sollen. Ein weiterer wichtiger Punkt bei klinischen Studien sind die Verträge zwischen Studiensponsor, der eine Studie organisiert und finanziert, und dem Studienzentrum, das die Studie durchführt. Es war bislang sehr aufwändig und hat viel zu lange gedauert, diese Verträge unter Dach und Fach zu bringen – hier soll nun mit verbindlichen Standardvertragsklauseln gegengelenkt werden. Und es gibt noch einen Punkt, der sehr wichtig ist.
Welcher wäre das?
Kirchhoff: Er betrifft die Erstattungsbetragsverhandlungen, also die Preisverhandlungen für Arzneimittel mit dem GKV, dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen. Das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz hat zuletzt die Erstattungsbedingungen für innovative Arzneimittel verschlechtert. Ein Arzneimittel erhält trotz nachgewiesenem Zusatznutzen in vielen Fällen nicht mehr einen höheren Preis als die Vergleichstherapie. Das Medizinforschungsgesetz hat jetzt hier eingelenkt: Zumindest für die Arzneimittel, die zwar unter diese AMNOG-Leitplanken fallen, aber bei denen ein relevanter Anteil der klinischen Studien in Deutschland gemacht wird, gibt es wieder Spielräume für die Erstattungsbetragsverhandlungen. Forschung in Deutschland soll so belohnt werden. Zusammengefasst: Das Medizinforschungsgesetz geht die richtigen Punkte an – es soll klinische Studien beschleunigen, den bürokratischen Ablauf vereinfachen und Rahmenbedingungen schaffen, um die pharmazeutische Forschung und Entwicklung zu verbessern.
Wo liegen die Schwächen des Gesetzes?
Kirchhoff: Darin, dass zum Teil keine Planungssicherheit geschaffen wird, ganz im Gegenteil. Und einiges droht in der Umsetzung sehr komplex zu werden, denn es werden viele neue Regulierungen geschaffen. Ganz grundsätzlich ist das Medizinforschungsgesetz aber ein gutes Gesetz, das die Pharmaforschung in Deutschland wirklich voranbringen kann.
Es gibt Stimmen, die sagen, das Gesetz könnte die Bürokratie womöglich noch verstärken anstatt sie abzubauen.
Kirchhoff: Ja, die Bürokratie ist ein leidiges Thema in Deutschland. Also: Der Versuch, Bürokratie abzubauen, ist an vielen Stellen angelegt. Etwa, wenn es um die Einbettung strahlenschutzrechtlicher Genehmigungen in das arzneimittelrechtliche Genehmigungsverfahren der klinischen Prüfung geht. Und auch ganz grundsätzlich bei den Genehmigungsverfahren für klinischen Studien, die schneller und einfacher ablaufen sollen. Das Risiko für neue bürokratische Hürden besteht zum Beispiel bei den bereits erwähnten Ausnahmen von den AMNOG-Leitplanken. Das betrifft die Arzneimittel, die nach dem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz einen Preisdeckel bekommen, obwohl sie gegenüber einer Vergleichstherapie einen Zusatznutzen haben. Haben diese aber einen relevanten Anteil klinischer Studien in Deutschland, dann fallen diese Preisobergrenzen. Wie diese Regelung aber konkret ausgestaltet ist, wer welche Nachweispflichten und Kontrollaufgaben wann übernimmt, und wie der Prozess laufen soll, ist nicht ganz klar. Außerdem ist diese Regelung auch noch befristet. Insgesamt hätte ich mir hier ein bisschen mehr Mut gewünscht. Nämlich die Punkte des GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes zu revidieren, die es für Unternehmen unattraktiv machen, ein Produkt auf den Markt zu bringen – das ist zum Beispiel der Fall, wenn Schrittinnovationen nicht so wertgeschätzt werden, wie es erforderlich und sinnvoll wäre. Denn mit diesen Leitplanken und auch mit den Kombinationsabschlägen werden gute Bemühungen ausgebremst, die Rahmenbedingungen für den Forschungsstandort zu verbessern.
Spanien gilt als das europäische Land, in dem klinische Studien am schnellsten und mit dem den geringsten bürokratischen Aufwand genehmigt werden. Wird Deutschland hier jetzt aufholen?
Kirchhoff: Die verbindlichen Mustervertragsklauseln zwischen Studiensponsor und Studienzentrum könnten tatsächlich dazu beitragen. Bislang dauert es in Deutschland zwischen 128 und fast 300 Tagen, bis so ein Vertrag geschlossen ist. In Spanien dauert es 61 bis 111 Tage und in Frankreich 24 bis 76 Tage. Wir haben zwar eine flächendeckende Gesundheitsinfrastruktur, trotzdem finden in Deutschland nur halb so viele klinische Studien pro eine Million Einwohner statt wie in Spanien. Hieran sehen wir gut, wo die Probleme mit den klinischen Studien liegen. Sie liegen in der Patientenrekrutierung, wir haben hohe bürokratische Hürden, die es schwer machen, klinische Studien zum Laufen zu bringen, und eine komplexe, komplizierte Vertragsgestaltung hat das Ganze noch zusätzlich verlangsamt.
Weshalb steht Spanien so viel besser da als Deutschland?
Kirchhoff: Spanien hat vor wenigen Jahren beschlossen, einer der weltweit wichtigsten Standorte für klinische Studien zu werden. Sie sind da sehr pragmatisch vorgegangen: Es wurden verbindliche Mustervertragsklauseln eingeführt, die Patientenrekrutierung wurde vereinfacht, für die Unternehmen, aber auch für die Patientinnen und Patienten – sie können viel einfacher als bei uns klinische Studien finden, die für sie in Frage kommen und sich darauf bewerben. Das hat hervorragend funktioniert. Innerhalb kürzester Zeit ist Spanien für Pharmaunternehmen zum wichtigsten klinischen Studienstandort in Europa geworden. Auch in Frankreich setzt man auf pragmatische Maßnahmen zur Stärkung des Studienstandorts, auch hier mit Erfolg. Deutschland ist unter den zehn wichtigsten Studienstandorten weltweit das einzige Land, das in den letzten zehn, zwölf Jahren durchgängig einen rückläufigen Trend hinnehmen musste.
Sie sind am Institut der Deutschen Wirtschaft Projektleiterin für den Pharma-Standort Deutschland. Wenn Sie drei Wünsche frei hätten, um diesen Standort zu stärken – welche wären das?
Kirchhoff: Die Bundesregierung hat Ende letzten Jahres eine Nationale Pharmastrategie beschlossen – und mein wichtigster Wunsch ist es, dass wir die dort aufgeführten Punkte tatsächlich schnell umsetzen. Das heißt: Bürokratie abbauen, langwierige Genehmigungsverfahren kürzer und effizienter machen, den Übergang von der Grundlagenforschung bis zur Anwendung neuer Arzneimittel in der Versorgung verbessern. Das Medizinforschungsgesetz ist ein wichtiger Teil der Strategie. Und: Ich wünsche mir, dass innovative Therapien nicht mehr nur als Kostenfaktor in den gesetzlichen Krankenversicherungen gesehen werden, sondern dass wir eine Regulatorik aufbauen, die Innovationen belohnt. All das ist in der Pharmastrategie angelegt. Jetzt müssen wir es nur noch umsetzen.
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