Mit der „Nationalen Pharmastrategie“ und dem Medizinforschungsgesetz (MFG) will die Bundesregierung den Pharmastandort wieder attraktiver machen. Eine gute Sache, oder?
Dr. Andreas Eitel: Die Ziele der Strategie und des MFG sind in meinen Augen wichtig und richtig. Es braucht zielgerichtete, mutige politische Maßnahmen: Schließlich geht es um die Rahmenbedingungen für die Zukunft, für eine starke, wettbewerbsfähige forschende Pharmabranche – es geht darum, dass die Patient:innen in Deutschland langfristig einen guten Zugang zu innovativen Arzneimitteln erhalten.
Wie schätzen Sie den hiesigen Pharmastandort aktuell denn ein?
Eitel: Deutschland ist nach wie vor ein wichtiger Standort. Wir haben eine ausgeprägte Forschungslandschaft: Gut ausgebildete Wissenschaftler:innen, exzellente Universitätskliniken, eine starke Industrie. Und trotzdem: Im internationalen und europäischen Vergleich verlieren wir an Boden. Ein Beispiel hierfür sind klinische Studien – immer öfter werden sie andernorts durchgeführt. Das ist tragisch: Denn klinische Studien sind elementar für die Translation, also die Übertragung von Erkenntnissen aus der Forschung in die Versorgung in Form von innovativen Therapien für die Patient:innen. Daher ist es dringend geboten, dass die Bundesregierung gegensteuert und Reformen angeht. Als pharmazeutisches Unternehmen freuen wir uns, dass nun Initiativen gestartet worden sind – etwa zur Entbürokratisierung von klinischen Studien. Die Pharmastrategie bzw. das MFG und die verabschiedeten Digitalgesetze können unter Umständen wirklich zum Gamechanger werden, um den Standort attraktiver zu machen.
Unter Umständen?
Eitel: Wichtig ist auch, dass stabile, planbare Rahmenbedingungen für die Erstattung von Arzneimitteln geschaffen werden – und da sehen wir bei der Pharmastrategie Luft nach oben. Wir plädieren für eine mutige Korrektur der innovationshemmenden Maßnahmen des 2022 in Kraft getretenen GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes (GKV-FinStG).
Ipsen hat gegen das Gesetz Verfassungsbeschwerde erhoben. Warum?
Eitel: Das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz hat das etablierte AMNOG-System, wonach in Deutschland neue Arzneimittel bewertet und erstattet werden, aus der Balance gebracht. Aus unserer Sicht entfernt sich das System zunehmend von der gesetzgeberischen Intention, wonach Innovationen, die besser sind als bereits bestehende Therapieoptionen, auch mehr kosten dürfen. Dieses evidenzbasierte Monetarisieren eines Zusatznutzens wurde mit dem GKV-FinStG deutlich eingeschränkt. In vielen Fällen dürfen nun neue Arzneimittel trotz Zusatznutzen nicht mehr kosten als die im Vergleich herangezogene Therapieoption. Das kommt einer systematischen Abwertung gleich. Hinzu kommt der geplante 20-prozentige pauschale Abschlag auf Arzneimittel, die in Kombination mit anderen Präparaten eingesetzt werden: Aus unserer Sicht bedeutet er eine unzulässige Doppelbelastung für die Unternehmen. Wir haben zum Beispiel so einen Fall bei einem Wirkstoff für das fortgeschrittene Nierenzellkarzinom: Aufgrund der neuen Indikation, bei der er in Kombination mit einem anderen Wirkstoff eingesetzt wird, ist er durch das AMNOG-Verfahren gegangen; in diesem Zuge wurde ein neuer Preis verhandelt und der Erstattungsbetrag gesenkt. Nichtsdestotrotz sollen wir nun einen zusätzlichen Kombinationsabschlag gewähren – das ist für uns nicht nachvollziehbar.
Aus welchem Grund kann ein Gesetz wie das GKV-FinStG Einfluss auf den Pharmastandort und die hiesige Versorgung der Patient:innen haben?
Eitel: Dazu muss man wissen: Die Arzneimittelforschung ist ein komplexer, risikobehafteter, langwieriger Prozess. Im Schnitt dauert es 13 Jahre von der Entdeckung des Moleküls bis zur Zulassung eines Arzneimittels; die durchschnittlichen Kosten liegen bei etwa 2 Milliarden Euro. Rund 86 Prozent aller Forschungsprojekte schaffen es nicht bis in die Versorgung: Auch die gilt es als Unternehmen mitzufinanzieren – ansonsten kann es nicht mehr an neuen Behandlungsmöglichkeiten arbeiten. Politische Entscheidungen spielen daher eine große Rolle: Wir brauchen als Hersteller Planungssicherheit, also langfristig stabile, verlässliche Rahmenbedingungen – gerade was Dinge wie Patentschutz und Erstattung betrifft. Fehlt diese Sicherheit und verschlechtern sich die Rahmenbedingungen, hat das Auswirkungen auf die Investitionen, die ein Unternehmen tätigen kann – sie aber sind Voraussetzung für die Entwicklung innovativer Therapieoptionen und für eine gute Arzneimittelversorgung der Gegenwart und Zukunft.
Laut der „Arbeitsgemeinschaft Therapie Seltene Erkrankungen“ sind Arzneimittel für kleine, vulnerable Patientengruppen besonders stark durch das GKV-FinStG betroffen. Warum?
Eitel: Bei kleinen Patientenpopulationen steht die Arzneimittelforschung vor besonderen Herausforderungen: Wie setzt man hier am besten Studien auf – angesichts von Erkrankungen, die oft sehr schwerwiegend sind und nur wenige Menschen betreffen? Es liegt in der Natur der Sache, dass hier nicht im selben Umfang und mit denselben Methoden Daten erhoben werden können wie bei häufigen Krankheiten. Das hat auch ethische Gründe. Das Problem aber ist, dass das Arzneimittel-Nutzenbewertungsverfahren AMNOG eher auf größere Patientenpopulationen ausgelegt ist: Deshalb können die eingereichten Studiendaten den Anforderungen des Verfahrens häufig gar nicht gerecht werden. Eine potenzielle Folge ist, dass kein Zusatznutzen belegt werden kann – das hat Auswirkungen auf die Preisverhandlungen und führt im schlimmsten Fall dazu, dass es dem jeweiligen Unternehmen nicht möglich ist, sein Arzneimittel für die Menschen in Deutschland zur Verfügung zu stellen.
Und dieses Risiko hat sich aufgrund der strikteren Erstattungsregeln des GKV-FinStG erhöht?
Eitel: Genau. Zumal es eine weitere Änderung gab: Vor dem GKV-FinStG galt immerhin der Zusatznutzen von Therapien mit sogenanntem Orphan Drug-Status bis zu einer Umsatzschwelle von 50 Millionen Euro als belegt. Aus gutem Grund: Die europäische Arzneimittelbehörde EMA hat im Vorfeld bereits eine Bewertung vorgenommen, auf deren Basis die Zulassung erfolgte. Im AMNOG-Verfahren musste daher nur das Ausmaß des Zusatznutzens bestimmt werden. Mit dem GKV-FinStG wurde diese Schwelle auf 30 Millionen Euro gesenkt. Das heißt: Mit mehr Orphan Drugs als bisher wird nun im AMNOG umgegangen wie mit Arzneimitteln gegen häufigere Erkrankungen. So oder so halte ich die Grenze für willkürlich: Schließlich ändert das Überschreiten einer bestimmten Umsatzschwelle nichts an der Evidenz bzw. Wertigkeit eines Arzneimittels.
Teil der Pharmastrategie ist, dass die Auswirkungen des GKV-FinStG weiterhin evaluiert werden. Was halten Sie davon?
Eitel: Zum einen wurde dieses Versprechen bisher nicht eingelöst. Zum anderen: Für mich ist es schwierig nachzuvollziehen, zu welchem Zeitpunkt eine Evaluation wirklich sinnvoll ist. Umfassende, negative Folgen auf den Pharmastandort und die Versorgung der Patient:innen werden sich erst mittel- und langfristig zeigen – d.h. eine Evaluation kann unter Umständen jetzt noch zu früh sein. Andererseits kann man nicht jahrelang damit warten, denn dann ist das Kind schon in den Brunnen gefallen. Mit unserer Verfassungsbeschwerde wollen wir grundsätzlich die Verfassungsmäßigkeit der Regelungen im GKV-FinStG gerichtlich prüfen lassen.
Aber Ihnen ist doch bewusst, dass die Finanzen der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) dringend stabilisiert werden müssen?
Eitel: Auf jeden Fall. Schließlich bildet eine stabile GKV-Finanzierung die Grundlage für eine hochwertige, am medizinischen Fortschritt ausgerichtete Arzneimittelversorgung. Doch es braucht nachhaltigere Vorschläge. Zum Teil liegen die schon lange auf dem Tisch und sind parteiübergreifend Konsens – wie etwa eine Entlastung der GKV von den so genannten versicherungsfremden Leistungen. Die Pharmabranche selbst leistet schon seit Jahren einen steigenden Beitrag zur Kostendämpfung: Etwa durch die Reduktionen der Arzneimittel-Erstattungsbeträge in Folge des AMNOG, durch Rabattverträge oder durch gesetzliche Abschläge wie den Herstellerrabatt. Hinzu kommt: Die Innovationen, die wir entwickeln, dienen der Gesunderhaltung der Menschen in unserer Gesellschaft – sie haben somit einen positiven Effekt auf unser Wirtschaftssystem. Kurzfristig orientierte Sparmaßnahmen, die zu Lasten der forschenden pharmazeutischen Unternehmen gehen, sind daher nicht zielführend.
Was muss in Ihren Augen nun passieren – für einen attraktiven Pharmastandort und eine gute Versorgung der Patient:innen?
Eitel: Die Maßnahmen der Pharmastrategie und des Medizinforschungsgesetzes sind definitiv richtig. Bei konsequenter und bindender Umsetzung können sie dazu beitragen, dass Deutschland wieder an Attraktivität gewinnt. Wir brauchen aber zusätzlich Reformen – etwa in Bezug auf die Erstattung therapeutischer Innovationen. Hier wäre ein wichtiger Schritt, das GKV-FinStG schnellstmöglich zu korrigieren. Auch gilt es, das Arzneimittel-Nutzenbewertungsverfahren AMNOG, das inzwischen 13 Jahre alt ist, zu reformieren, sodass es besser an besondere Therapiesituationen wie z.B. den seltenen Erkrankungen angepasst ist. Nur so kann es auch in Zukunft mit dem medizinischen Fortschritt mithalten und sichergestellt werden, dass innovative Arzneimittel allen Patient:innen in Deutschland zur Verfügung stehen. Gleichzeitig müssen die Rahmenbedingungen auf europäische Ebene stimmen: Momentan wird ja an einem EU-Pharma-Paket gearbeitet. Diese Chance sollte die Politik nutzen, um den europäischen Standort insgesamt zu stärken.
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