Ein halbes Jahr nach Verabschiedung der Pharmastrategie ziehen der BPI-Vorsitzende Oliver Kirst und BPI-Hauptgeschäftsführer Dr. Kai Joachimsen Bilanz (Bild: hier mit Vizekanzler Robert Habeck auf der Vollversammlung des Verbands). Foto: BPI
Ein halbes Jahr nach Verabschiedung der Pharmastrategie ziehen der BPI-Vorsitzende Oliver Kirst und BPI-Hauptgeschäftsführer Dr. Kai Joachimsen Bilanz (Bild: hier mit Vizekanzler Robert Habeck auf der Vollversammlung des Verbands). Foto: BPI

Pharma in Deutschland: „Man muss uns nur lassen“

Die Führungsspitze des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie (BPI) im Pharma Fakten-Interview: Ein halbes Jahr nach Verabschiedung der Nationalen Pharmastrategie der Bundesregierung ziehen Oliver Kirst, BPI-Vorsitzender und Geschäftsführer von Servier Deutschland, sowie Dr. Kai Joachimsen, BPI-Hauptgeschäftsführer, Bilanz. Der Tenor: Die wichtigsten Weichen sind gestellt, aber nun muss sie auch zügig umgesetzt werden. Denn: Viel Zeit bleibt nicht.
Oliver Kirst, BPI-Vorsitzender und Geschäftsführer von Servier Deutschland
Oliver Kirst bei der BPI-Hauptversammlung. Foto: BPI

Selten war Gesundheitspolitik so turbulent. Wie blicken Sie zurück auf die vergangenen Monate?

Oliver Kirst: Das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG) war für die pharmazeutische Industrie ein sehr einschneidender Schritt, aber vielleicht auch ein Startpunkt seitens der Politik, um die Rolle der industriellen Gesundheitswirtschaft (iGW) zu überdenken. Die im vergangenen Dezember verabschiedete Nationale Pharmastrategie zeigt, dass die Politik erkannt hat, dass die iGW eine Schlüsselwirtschaft, eine Leitindustrie ist. Wir hören die klaren Bekenntnisse über alle demokratischen Parteien hinweg zu einer starken pharmazeutischen Industrie, wie gerade erst auf unserer Hauptversammlung, wo der Wirtschafts- und der Gesundheitsminister, aber auch der Oppositionsführer dies noch einmal bekräftigt haben. Entscheidend war sicher auch, dass das zur Chefsache erklärt worden ist – mit dem Pharmagipfel im vergangenen November im Bundeskanzleramt. Ich bin vorsichtig optimistisch.

Das „vorsichtig“ müssen Sie erklären…

Kirst: Es muss natürlich umgesetzt werden. Für uns sehr wichtig ist das Medizinforschungsgesetz (MFG), das sich zurzeit in der politischen Diskussion befindet. Das ist sicher ein Schritt in die richtige Richtung, aber wir sehen auch eine Menge Verbesserungsbedarf.

Dr. Kai Joachimsen: Unser Geschäftsmodell beginnt immer mit Forschung. Und wenn wir sehen, dass Deutschland vor gar nicht langer Zeit der zweitattraktivste Forschungsstandort der Welt war, aber wir mittlerweile auf Platz 6 sind, dann ist das natürlich ein Alarmsignal. Im MFG sind erste wichtige Schritte enthalten, vor allem die Maßnahmen zur Beschleunigung der Verfahren klinischer Studien. Unser Geschäftsmodell funktioniert aber immer nur in dem Dreieck Forschung – Produktion – Markt.

Mit Markt meinen Sie den kommerziellen Aspekt?

Dr. Kai Joachimsen, BPI-Hauptgeschäftsführer
Dr. Kai Joachimsen bei der BPI Hauptversammlung. Foto: BPI

Joachimsen: Genau. Entscheidend ist, dass einige Regelungen des GKV-FinStG zurückgenommen werden – das sind vor allem die so genannten Leitplanken des Nutzenbewertungsverfahrens AMNOG und die pauschalen Abschläge auf Kombinationspräparate. Denn die führen Forschung ad absurdum, weil in vielen Fällen Verbesserungen, die neue Arzneimittel den Patientinnen und Patienten bringen, nicht mehr honoriert werden. Deshalb sind die Regelungen dieses Spargesetzes toxisch und deshalb muss der Entwurf des MFG in diesem Bereich nachgebessert werden.

Kirst: Es ist richtig, dass Forschung und Entwicklung in Deutschland gestärkt werden soll – doch das muss man auch zu Ende denken. Damit meine ich: Man muss die Ergebnisse dieser Forschung honorieren. Wir haben in Deutschland für Arzneimittel rund 35 Preis- oder Mengeneinschränkungen – das gibt es in keiner anderen Branche. Das GKV-FinStG honoriert nur noch Sprunginnovationen und spricht den kleinen, wichtigen, oft entscheidenden Fortschritten in der Entwicklung neuer Medikamente jeglichen Innovationswert ab. Da ist das MFG die Möglichkeit, Korrekturen vornehmen zu können – und darüber sind wir mit der Politik im intensiven Austausch. Denn natürlich müssen sich Unternehmen fragen, ob sie im Land forschen, wenn ihre mit großem Aufwand und unter hohem wirtschaftlichem Risiko entwickelten Arzneimittel nicht entsprechend erstattet werden und in letzter Konsequenz dann gar nicht zur Verfügung stehen.

Viel Zeit für die entsprechenden Reformen ist nicht mehr…

Kirst: Wir haben nächstes Jahr Wahlen. Und deshalb muss das jetzt sehr zeitnah umgesetzt werden. Wir müssen einfach dahin kommen, dass Gesundheitspolitik als Ganzes gedacht wird.

Joachimsen: Gesundheitspolitik ist Wirtschaftspolitik, ist Wissenschaftspolitik. Der Pharmagipfel im Kanzleramt hat uns gezeigt: Die Politik nimmt uns als wichtigen Standortfaktor wahr. Aber wie jede Industrie brauchen wir gute Rahmenbedingungen; wir müssen das Geld, was wir in die Forschung investieren auch verdienen können. Gut ist, dass sich langsam die Erkenntnis festsetzt, dass wir nicht nur ein Kostenfaktor sind, sondern eine wertschöpfende Industrie, die die Volkswirtschaft am Laufen hält. Wir sind eine hoch attraktive Branche…

… das sagen allerdings alle…

Kirst, Habeck und Joachimsen bei der BPI Hauptversammlung. Foto: BPI
Kirst, Habeck und Joachimsen bei der BPI Hauptversammlung

Joachimsen: …weil sie stabile und wertschöpfende Arbeitsplätze schafft, weil sie eine großartige Symbiose aus Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft schafft. Deshalb müssen wir raus aus der „Arzneimittel-dürfen-nichts-kosten-Mentalität“. Wir sehen: Das ist alles erkannt, aber nun müssen Taten folgen. An dieser Stelle mein Lieblingssprichwort, es kommt aus Italien; dort sagt man: Zwischen Reden und Tun liegt das Meer. Ganz nebenbei: Es gibt wenige Industrien, die so anspruchslos sind wie wir. Wir fragen nicht nach Subventionen. Wir wollen einfach nur unseren Job machen und dafür angemessen honoriert werden. Daran sollte hat die Politik auch schon aus geopolitischen Überlegungen ein starkes Interesse haben.

Würden Sie das näher erklären?

Joachimsen: Wenn morgen die Situation zwischen China und Taiwan außer Kontrolle gerät, ist spätestens übermorgen unsere gesamte Antibiotika-Versorgung in Gefahr. Darauf machen wir seit vielen Jahren aufmerksam. Aber das müsste nicht sein, das Thema ist auch hausgemacht, weil es das Ergebnis der ruinösen Rabattverträge ist. Kurzum: Wir können unserem Land helfen, aber man muss uns auch lassen.

Kirst: Deutschland braucht eine gesunde Gesundheitswirtschaft. Die pharmazeutische Industrie ist ein Garant als Investitionsmotor, als Innovationsmotor, aber auch für eine gesicherte Versorgung mit Arzneimitteln.

Es ist politischer Konsens, dass das GKV-System dringend renovierungsbedürftig ist. Mir fehlt ein wenig die Fantasie, wie die Stärkung der iGW klappen soll, wenn die Hauptsäule unseres Gesundheitssystems von einer finanziellen Krise in die nächste stolpert. Wie sehen Sie das?

Joachimsen: Wir reden darüber, dass wir zu wenig Geld haben, aber stellen zu wenig die Frage: Wo versenken wir Geld? Unser System ist nicht effizient aufgestellt. Hinzu kommen die milliardenschweren Belastungen der GKV mit den versicherungsfremden Leistungen, die da nicht hingehören, weil es sozialpolitische Leistungen sind. Außerdem tun wir so, als ginge uns die Demografie nichts an, dabei werden wir alle älter. Wir brauchen dringend eine strukturelle Reform der GKV, die an diesen Stellschrauben arbeitet.

Und Investitionsmittel, oder? Die Digitalisierung in der Gesundheit, die Krankenhausreform sind angeschoben, aber woher kommt das Geld, um dieses Mammutprojekt auch umzusetzen?

Digitalisierung des Gesundheitssektors
Investitionsmittel für die Digitalisierung in der Gesundheit. Foto: ©iStock.com/ipopba

Kirst: Die Nationale Pharmastrategie enthält alle Elemente, damit die iGW erfolgreich arbeiten kann. Nur: Alle dort aufgeführten Maßnahmen stehen unter Finanzierungsvorbehalt. Deshalb ist eine strukturelle Reform der GKV ein Muss: Wir müssen deregulieren, wir müssen entbürokratisieren, wir müssen digitalisieren, auch um die Qualität wieder deutlich nach oben zu ziehen. Wir haben eines der teuersten Systeme weltweit, aber wenn wir uns die Outcomes anschauen – wie zum Beispiel die Lebenserwartung – dann sind wir mit Mühe Mittelmaß. Wir müssen Geld in die Hand nehmen und sinnvoll investieren.

Der BPI vertritt ja nicht nur die großen Player der Industrie, sondern viele der mittelständischen Unternehmen der Branche. Was treibt diese Unternehmen um?

Joachimsen: 9 von 10 Unternehmen unserer Branche in Deutschland sind mittelständisch geprägt, haben weniger als 500 Mitarbeitende. Ein großes Thema ist die Bürokratie: Wenn Sie mit 3 Regierungspräsidien über Ihr Projekt reden müssen, meinen Sie, Sie seien in 3 verschiedenen Ländern unterwegs. Diese Unternehmen sind stark in der Grundversorgung, aber das ist genau der Bereich, in dem auch die Preisregulierung ausufert. Da gibt es das Preismoratorium, das seit bald 15 Jahren gilt. Wir haben Festbeträge, die immer wieder reduziert werden. Und auch bei Rabattverträgen war bisher nur ein Maßstab relevant: der Preis.

Kirst: Und trotzdem produzieren viele dieser Unternehmen hier noch. Die müssen wir auch dringend halten, um unsere Abhängigkeit von Asien nicht noch zu vergrößern. Gleichzeitig steigen die Lohn- und Energiekosten. Das bedeutet: Diese Unternehmerinnen und Unternehmer sind verpflichtet, ihre Rechnungen von heute mit den Einnahmen von vor 15 Jahren zu bezahlen. Auch das gibt es in keiner anderen Branche. Und die Belastungen werden nicht weniger; im Gegenteil: Regulierung und Kosten nehmen zu. Ein Ergebnis davon ist: Fast die komplette Antibiotika-Produktion befindet sich heute in China, größtenteils im chinesischen Wuhan.

Diese Rahmenbedingungen sind nicht nur schlecht für die Unternehmen, sondern auch für Patient:innen in Deutschland, weil sie wahrscheinlich auch Lieferengpässe zur Folge haben, oder?

Kirst: Absolut. Solche Rahmenbedingungen verschlechtern die Versorgung kranker Menschen in unserem Land. Die durchschnittlichen Therapiekosten in der Grundversorgung liegen mittlerweile bei 6 Cent für die Tablette. So werden wichtige Arzneimittel zur Ramschware. Und in einem Land wie Deutschland sind plötzlich Fiebersäfte für Kinder Mangelware.

Karl Lauterbach & Dr. Kai Joachimsen bei der BPI Hauptversammlung
Karl Lauterbach & Dr. Kai Joachimsen bei der BPI Hauptversammlung. Foto: BPI

Der Bundesgesundheitsminister hat dazu das Lieferengpassgesetz gemacht. Hilft das?

Joachimsen: Nein. Es deckt nicht einmal 1 Prozent der Gesundheitsversorgung ab.

Immerhin…

Joachimsen: Das hilft keinem Unternehmer. In Bezug auf das Gros der rund 500 Arzneimittel, die von Lieferengpässen bedroht sind, hilft das Gesetz nicht. Der andere Bereich des Gesetzes betrifft die Antibiotika-Versorgung, die verbessert werden soll, aber wir haben keine nennenswerte Produktion mehr in Europa. In Deutschland gibt es z.B. nur noch einen Hersteller, der einen Antibiotika-Wirkstoff produziert.

Also müssen neue Produktionsstätten her…

Joachimsen: Ja, natürlich. Aber wenn Sie heute in Deutschland entscheiden, ein solches Werk hochzuziehen, kostet Sie das mindestens 5 bis 8 Jahre. Wir sind ja schon froh, dass mit dem Lieferengpass-Gesetz der Zusammenhang zwischen auskömmlicher Preispolitik und der Lieferfähigkeit erkannt wurde. Wie hat Karl Lauterbach so schön gesagt? „Wir haben es mit der Ökonomisierung zu weit getrieben.“

Kommen wir zum Schluss noch einmal zum Anfang des Interviews zurück: Der Rolle der pharmazeutischen Industrie in Deutschland. Was ist Ihr Angebot an die Politik?

Kirst: Ganz einfach: Die pharmazeutische Industrie ist der Investitionsmotor für Deutschland, der Innovationsmotor und gleichzeitig der Garant für eine sichere Gesundheitsversorgung der Bevölkerung. Wir schaffen Neues, wir arbeiten an den Therapien von morgen. Die Pharmaindustrie steht für Gesundheit, Innovation und Wohlstand. Und bietet damit genau das, was dieses Land braucht.

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