Als die 12-jährige Neele gerade einmal 4 Monate alt war, erhielt sie die Diagnose „atypisches Hämolytisch-Urämisches Syndrom“ (aHUS). Es ist eine chronische, potenziell lebensbedrohliche Krankheit, bei der ein Teil des Immunsystems überreagiert und den Körper dazu bringt, gesunde Zellen anzugreifen – letztlich können so wichtige Organe wie die Nieren geschädigt werden. Die Forschung hat viel dazu gelernt: Wie die „Arbeitsgemeinschaft Therapie Seltene Erkrankungen“ (ATSE) in einer Broschüre berichtet, wird das Mädchen seit einigen Jahren „erfolgreich mit einem Medikament behandelt, das sie eigenständig zu Hause einnehmen kann“. Neele selbst sagt rückblickend: „Ich hatte großes Glück, dass ich einen Arzt hatte, der diese Krankheit kannte und sofort wusste, was ich habe. Es gab nur 70 Erkrankte (in Deutschland) wie mich, glaubte man. Seitdem hat sich viel getan: Die Ärzte wissen heute von 250 Menschen wie mir. Leider geht es aber nicht allen so gut wie mir.“
In der ATSE haben sich die pharmazeutischen Firmen Alexion, BioMarin, Bristol Myers Squibb, Chiesi, Ipsen, Takeda, UCB und Vertex zusammengeschlossen, um einen Beitrag zur Verbesserung der Versorgung von Menschen mit seltenen Erkrankungen zu leisten. In Deutschland sind 4 Millionen Erwachsene und Kinder betroffen. Sabrina zum Beispiel lebt mit einer seltenen Lebererkrankung – sie heißt „primäre biliäre Cholangitis“ (PBC): Enormer Juckreiz, lähmende Erschöpfung sowie Schmerzen im Oberbauch gehören zu den typischen Symptomen. Im Endstadium drohen Leberzirrhose und Transplantation. Anders als bei vielen anderen „rare diseases“ gibt es eine zugelassene Therapieoption. Doch heilbar ist PBC bislang nicht – und oft lässt sich das Fortschreiten der Erkrankung nicht ausreichend kontrollieren. Sabrina nimmt daher an einer klinischen Studie zu einer neuartigen Arzneimitteltherapie teil.
Diese Beispiele zeigen: Es braucht noch mehr Forschung für Menschen mit seltenen Erkrankungen. Da ist es gut, dass die Bundesregierung laut ihrer Ende 2023 beschlossenen „Pharmastrategie“ die Forschung und Entwicklung (F&E) „in Bereichen, in denen Marktversagen besteht“, stärken will. In dem Papier, so die ATSE in einer Stellungnahme, wurde das Thema „Orphan Drugs“ jedoch „nicht ausreichend verankert.“ Letztlich liegt das nicht nur an der Pharmastrategie selbst, sondern auch an 2 Gesetzen – namens „AMNOG“ und „GKV-FinStG“.
Orphan Drugs im AMNOG
Das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) ist bereits seit 2011 in Kraft und sieht vor, dass sich der Preis eines neuen Medikaments am Zusatznutzen gegenüber bereits erhältlichen Präparaten orientieren soll. In Bezug auf Arzneimittel gegen seltene Erkrankungen wurde damals einiges richtig gemacht: Die Politiker:innen regelten, dass Orphan Drugs zwar den regulären AMNOG-Prozess durchlaufen müssen, der Zusatznutzen aber bis zu einer Umsatzschwelle von 50 Millionen Euro durch die vorangegangene europäische EMA-Zulassung als belegt gilt. Im AMNOG wird dann nur das Ausmaß des Zusatznutzens bestimmt.
Wenn deshalb kritisch von einer „Nutzenfiktion“ die Rede ist, ist das zumindest aus inhaltlichen Gesichtspunkten falsch: Denn niemand geringeres als die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) hat im Vorfeld bereits eine Zusatznutzen-Bewertung vorgenommen. Diese ist in ihrer Methodik – anders als das AMNOG – auf die Besonderheiten von Orphan Drugs zugeschnitten. Das ist wichtig, denn forschende Pharmaunternehmen stehen vor besonderen Herausforderungen: So ist die Daten-Generierung in klinischen Studien oft nicht im selben Umfang oder auf dieselbe Art und Weise möglich wie etwa bei Diabetes – in der Regel ist wenig über eine seltene Erkrankung bekannt, unbehandelt verläuft diese häufig sehr schwer oder tödlich und es gibt nur wenige Betroffene weltweit.
„Gerade Menschen mit seltenen Erkrankungen befinden sich oft in einer existenziellen Situation. Sie haben oft schlicht nicht die Zeit, um zu warten, bis völlige Sicherheit besteht. Das sollte sich aus meiner Sicht in der Bewertungsmethodik widerspiegeln“, erklärte Dierk Neugebauer von Bristol Myers Squibb in Deutschland im Pharma Fakten-Interview. Orphan Drugs benötigen andere Bewertungsmaßstäbe als Medikamente gegen Volkskrankheiten, sollen sie nicht durchs Raster fallen.
Orphan Drugs vor zunehmenden Hürden
Doch die Gefahr ist, dass genau das zunehmend passiert. Bereits in den vergangenen Jahren habe sich laut ATSE gezeigt, dass der Nutzenbewertungsprozess des AMNOG „dem medizinischen Fortschritt zunehmend nicht mehr gewachsen ist.“ Bei innovativen Technologien wie Gen- und Zelltherapien stoßen „die klassischen Pfade der Evidenzgenerierung […] häufiger an Grenzen. Für solche Therapien braucht es ein offeneres und flexibleres AMNOG.“ Auch der Pharmaverband vfa (s. Pharma Fakten) oder Politiker wie der FDP-Abgeordnete Prof. Andrew Ullmann (s. Ärzte Zeitung) fordern eine Reform. Denn wird der Zusatznutzen einer Innovation aufgrund einer starren Methodik nicht erkannt und erhält das Unternehmen in der Folge keinen auskömmlichen Preis, ist es unter Umständen aus wirtschaftlichen Gründen gezwungen, das Medikament vom Markt zu nehmen. Ein Anreiz für mehr Forschung ist das Szenario nicht.
Ende 2022 kam das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG) hinzu: Die „Evidenzbesonderheiten von Orphan Drugs“ finden im AMNOG nun „noch weniger Berücksichtigung“, schreiben die ATSE-Unternehmen. Die Umsatzschwelle, ab welcher der Zusatznutzen für Orphan Drugs durch die Zulassung als belegt gilt, wurde von 50 Millionen Euro auf 30 Millionen Euro gesenkt. Mehr Präparate als bisher sind also betroffen.
GKV-FinStG evaluieren, AMNOG flexibilisieren
„Bereits heute gibt es Indizien dafür, dass das GKV-FinStG im Zusammenspiel mit der unflexiblen AMNOG-Methodik für viele Orphan Drugs zu Problemen führt, die einen verspäteten oder ausbleibenden Zugang bedeuten könnten“, erklärt die ATSE. „Ein drastisches Beispiel dafür sind zwei CAR-T-Zelltherapien, die zwar vielversprechende Heilungschancen für einige Krebspatientinnen und -patienten bieten, die aufgrund der vom G-BA an die Evidenzgenerierung angelegten methodischen Ansprüche jedoch den Zusatznutzen abgesprochen bekommen haben“.
Die ATSE betont nicht nur die Notwendigkeit einer weitergehenden Evaluation der GKV-FinStG-Auswirkungen unter Beteiligung von Akteuren wie der Industrie und Patientenvertretungen, sondern fordert unter anderem eine „Rückkehr zur Umsatzgrenze von 50 Mio. €“ sowie „eine Flexibilisierung der AMNOG-Methodik“.
Und: „Um langfristig Investitionsanreize für Orphan Drugs zu steigern und die Patientenversorgung von Menschen mit seltenen Erkrankungen weiter zu verbessern, schlägt die ATSE vor, Orphan Drugs von der Abführung des Herstellerabschlags grundsätzlich auszunehmen.“ Normalerweise beträgt er 7 Prozent des Herstellerabgabepreises zugunsten der Krankenkassen. Es ist Geld, das pharmazeutische Firmen nicht für künftige Forschungsprojekte nutzen können.
EU-Pharma-Paket: Viel in Bewegung
Und was passiert auf europäischer Ebene? Die ATSE „begrüßt die Initiative der Bundesregierung attraktive Rahmenbedingungen für F&E in der EU zu schaffen und einen guten Zugang für Patientinnen und Patienten zu neuen Arzneimitteln zu gewährleisten.“
Die EU-Kommission hatte im April 2023 einen Entwurf für ein „EU-Pharma-Paket“ vorgelegt, mit dem eine „adäquate Versorgung von Menschen mit seltenen Erkrankungen nicht sichergestellt werden kann“, so die Einschätzung der Firmen. Ein Teil der Regelungen drohe das Potential der Forschung und Entwicklung zu beschränken, befürchten sie. Unter anderem sind Veränderungen beim Unterlagenschutz von Arzneimitteln geplant. Die Bundesregierung steht dem laut Pharmastrategie kritisch gegenüber. „Aus Sicht der ATSE sollte die Bundesregierung die Ablehnung der Verkürzung des Unterlagenschutzes auch auf die von der EU-Kommission vorgeschlagene Verkürzung der Marktexklusivität für Orphan Drugs ausdehnen.“
Denn letztlich schwächt das „den Schutz geistigen Eigentums im Bereich der Arzneimittel für seltene Erkrankungen und vermindert so die Anreize in die Forschung und Entwicklung von Orphan Drug zu investieren.“ Und dabei gibt es noch so viel zu tun – für rund 30 Millionen Menschen in Europa.
Weiterführende Links:
Weitere News
Seltene Erkrankungen: Wie Politik Innovationen die Vorfahrt nimmt
Gesundheitspolitik geht alle an: Das zeigt das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz. Eigentlich soll es vor allem eines tun: Geld auf Seiten der Krankenkassen einsparen. Aber es hat Folgen, die schon heute die Gesundheitsversorgung der Menschen in Deutschland verschlechtern. Auch auf europäischer Ebene arbeitet die Politik an einem neuen Gesetz: Das „EU-Pharma-Paket“ könnte laut einem Gutachten dazu führen, dass Forschung und Entwicklung zurückgeschraubt und deutlich weniger Orphan Drugs zugelassen werden. Rund 1,5 Millionen Menschen mit seltenen Erkrankungen würden in der Folge einer neuartigen Behandlungsoption beraubt.
„AMNOG 2025“: Die Arzneimittelbewertung fit machen
Von ein paar gesundheitspolitischen Enthusiasten abgesehen, interessiert sich eigentlich niemand für das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG). Das ist grundfalsch; immerhin wird in diesem Verfahren unter anderem entschieden, ob innovative Arzneimittel in Deutschland auf den Markt kommen oder nicht. Vor mehr als 10 Jahren in Deutschland eingeführt, muss es dringend aufs Trockendock, findet der Pharmaverband vfa. Und hat deshalb das Reformkonzept „AMNOG 2025“ vorgelegt.
Menschen mit seltenen Erkrankungen: Setzt die Politik ihre Arzneimittelversorgung aufs Spiel?
Die Erforschung und Entwicklung von Arzneimitteln zur Behandlung von seltenen Erkrankungen ist alles andere als ein Selbstläufer. Die Herausforderungen sind groß – in wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Hinsicht. Trotzdem gelingt es den Pharmaunternehmen immer mehr Medikamente in die Versorgung zu bringen. Die Politik hat wichtige und richtige Anreize gesetzt, um das möglich zu machen. Das könnte sich nun ändern, fürchtet die ATSE – Arbeitsgemeinschaft Therapie Seltene Erkrankungen, in der sechs forschende Pharmaunternehmen zusammengeschlossen sind.