Es vergeht kein Tag ohne einen Brandbrief an den Bundesgesundheitsminister aus irgendeiner Ecke des Gesundheitswesens: Die Ärzteschaft ist empört, weil er sich in die Honorarverhandlungen einmischt und nichts unternehme, um den Praxenkollaps zu verhindern; die Krankenkassen (GKV) fordern in einem Schreiben, endlich die Finanzlücke zu schließen; ein ärztlicher Interessensverband der HIV-Versorgung appelliert, den medizinischen Fortschritt „nicht aufs Spiel zu setzen“, und Deutschlands Apotheker:innen sind – vorsichtig formuliert – auch nicht glücklich mit der Politik von Prof. Dr. Karl Lauterbach.
Gleichzeitig entdeckt der Minister eine zarte Liebe für die forschende Pharmaindustrie. Auf dem G20-Gipfel in Indien erklärte er: „Wir brauchen ein Gesetz, was die Produktionsbedingungen, aber auch die Forschung in Deutschland verbessert.“ Man darf gespannt sein: Das GKV-FinStG, das die Finanzen der GKV nur kurzzeitig stabilisiert, spricht eine andere Sprache. Einen Effekt hat das Gesetz auf jeden Fall schon: Mindestens 3 neue Krebs- und ein HIV-Präparat werden in Deutschland zunächst nicht eingeführt; sie stehen den Patient:innen nicht oder nur über komplexe bürokratische Prozesse zur Verfügung. Es verändert sich gerade etwas bei der Versorgung mit innovativen Therapien.
Arzneimittelinnovationen: Verliert Deutschland seine Spitzenstellung?
Woran liegt das? Die Pharmaunternehmen hatten im vergangenen Herbst deutlich davor gewarnt, dass das passieren könnte: Dass Deutschland seine Spitzenstellung in Europa verliert, wo neu zugelassene Arzneimittel in der Regel zuerst zur Verfügung stehen. Denn das GKV-FinStG ist ein massiver Eingriff in das Geschäftsmodell forschender Pharmaunternehmen: Mit den Einnahmen von heute finanzieren sie die Arzneimittel von morgen. Und je weniger Geld in der Kasse bleibt, desto weniger kann investiert werden. Genau das tut das FinStG: Es entzieht dem Innovationskreislauf Geld. Und – schlimmer noch – spricht es Innovationen ihren Innovationscharakter ab, belegt sie mit Preisabschlägen und sendet damit ein klares Signal an alle, die neue Arzneimittel erfinden: Forschen und Weiterentwickeln lohnt sich immer weniger.
Wozu einzelne Regelungen in dem Gesetz führen können, zeigt ein Gedankenspiel, das auf einem tatsächlichen Fall beruht: Ein forschendes Pharmaunternehmen entwickelt einen Wirkstoff A für Menschen mit schweren Erkrankungen – ein echter Fortschritt. Doch die Erfinder:innen geben sich nicht zufrieden, sie wollen für ihre Patient:innen noch mehr erreichen. Sie entwickeln einen anderen Wirkstoff B, der in der Kombination mit A in der Grundlagenforschung und den klinischen Studien zeigt, dass er in bestimmten Fällen noch besser ist. Auf dem Papier ist es kein Riesenschritt, eher ein inkrementeller Progress, eine Verbesserung „Schritt für Schritt“ – die betroffenen Menschen dürften das allerdings anders sehen: Ihnen steht eine neue Option zur Verfügung.
Das Pharmaunternehmen entwickelt aus A und B eine fixe Kombination und erhält von der europäischen Behörde EMA, die Zulassung (womit der Nutzen des Medikaments attestiert ist). Nun stellt es sich der Bewertung des Zusatznutzens im Rahmen der deutschen AMNOG-Gesetzgebung, die Grundlage für die Verhandlung des Erstattungspreises ist. Dazu 2 Szenarien, die sich aus dem GKV-FinStG ergeben können:
- Entscheidet der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) als oberstes AMNOG-Gremium auf einen nicht quantifizierbaren oder einen geringen Zusatznutzen, dann darf das Präparat nicht mehr kosten als die zur Bewertung herangezogene Vergleichstherapie (in unserem Beispiel Arzneimittel A). A und B zusammen dürfen nicht mehr kosten als A allein; B bekommt einen Preis von 0 Euro.
- Kommt die A/B-Fixkombi ohne attestierten Zusatznutzen aus dem Verfahren, muss der Erstattungsbetrag für die GKV mindestens 10 Prozent unter dem der zur Bewertung herangezogenen Vergleichstherapie A liegen.
Der frühere Vorsitzende der AMNOG-Schiedsstelle und intimer Kenner des Systems, Professor Dr. Jürgen Wasem, hat diese Neuregelung in einem Interview für die Presseagentur Gesundheit pag (OPG 7/2023) kommentiert: „Dass das Unfug ist, ist doch offensichtlich.” Er halte es für „grundsätzlich falsch”, inkrementellen Fortschritt nicht mehr zu belohnen. Letztlich bedeutet das, dass die Hersteller ihren neuen Wirkstoff verschenken oder – wie im Falle des 10-prozentigen Abschlags – sogar noch Geld „mitbringen“ müssen.
Hinzu kommt: Bloß, weil der G-BA sagt, das A/B-Präparat bringe keinen Zusatznutzen, muss das noch lange nicht so sein. Schon öfter ist der Fall aufgetreten, dass nicht nur der pharmazeutische Entwickler, sondern auch die medizinischen Fallgesellschaften und Patient:innen-Organisationen ein Arzneimittel positiver bewerten, als der G-BA. Für sie ist zum Beispiel der Endpunkt „progressionsfreies Überleben“ bei Menschen mit Krebs – also ein messbares längeres Nicht-Fortschreiten der Krankheit – ein wichtiger Parameter, der auch in vielen Ländern als Qualitätsmerkmal herangezogen wird. Nur in Deutschland in der Regel nicht.
Auch ein geringer (oder aufgrund der vorliegenden Daten nicht bezifferbarer) Zusatznutzen ist ein Zusatznutzen, von dem kranke Menschen profitieren können. Dass jeglicher und eben auch der medizinische Fortschritt in der Regel in Schritten vorangeht, ist eine Binsenweisheit. Über die Zeit und Schritt für Schritt wurde zum Beispiel aus dem Multiplen Myelom eine Erkrankung, mit der die betroffenen Menschen heute viel länger und bei besserer Lebensqualität leben können als noch vor 2 Jahrzehnten. Auch HIV wurde nicht über Nacht von einem Todesurteil zu einer chronischen Erkrankung.
Theoretisch sind natürlich bessere Bewertungen möglich, wie zum Beispiel ein „beträchtlicher Zusatznutzen“. Das scheitert aber oft daran, dass das deutsche System im internationalen Vergleich als sehr rigide gilt und die angewandten Methoden oft nicht mehr dem Stand der Wissenschaft entsprechen. Schon länger wird diskutiert, dass das AMNOG Rost angesetzt hat und deshalb dringend einer Reform bedarf.
Kapiert Deutschland den Fortschritt nicht?
Für das Pharmaunternehmen mit der A/B-Fixkombi bedeuten die neuen Regelungen des GKV-FinStG letztlich: Es kann seine Forschungsanstrengungen nicht in zusätzliche Einnahmen umwandeln. Der Anreiz, eine Therapie weiterzuentwickeln, fällt weg. Sebastian Balzter von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) formuliert es so: „Deutschland kapiert den Fortschritt nicht.“
Vom Gedankenspiel in die nackte Realität: Der Entwickler unserer A/B-Fixkombi hat dieses nicht in Deutschland eingeführt. Das gilt auch für ein neues Arzneimittel zur Behandlung von Menschen mit HIV – ein Präparat für diejenigen, bei denen das zugelassene Therapiearsenal nicht mehr wirkt. 3 Interessensvertretungen von Ärzt:innen, die solche Menschen behandeln, haben an Karl Lauterbach geschrieben: Sie halten das Ziel des Gesetzgebers, dadurch Geld zu sparen, indem man die Verschreibung innovativer Medikamente verhindert, für „ethisch fragwürdig“. Das AMNOG-Verfahren sei auf diese Weise für die Unternehmen „ein nicht zu kalkulierender Prozess“.
Einen Hoffnungsschimmer gibt es: Da ist nicht nur die Ankündigung Lauterbachs, Pharmaforschung bald per Gesetz fördern zu wollen. Bereits im vergangenen Herbst wurde zudem beschlossen, dass die Folgen des GKV-FinStG evaluiert werden sollen; die zuständigen Verbände sind vom BMG aufgefordert, ihre Stellungnahmen abzugeben. Vielleicht gelingt ja doch noch eine Wende, damit Deutschland – wieder O-Ton FAZ – seine Forscher:innen „nicht vergrault“.
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