Beim AMNOG geht es schlicht um die Frage: Ist ein neues Arzneimittel besser als bereits zugelassene Präparate und wenn ja, wieviel besser? Erörtert wird das über ein sehr aufwändiges Verfahren auf Basis klinischer Studien, in dem ein neuer Wirkstoff seinen Zusatznutzen gegenüber einer festgelegten Vergleichstherapie belegen muss. Das Ergebnis dieser Analyse ist Grundlage dafür, dass sich der GKV-Spitzenverband und das jeweilige pharmazeutische Unternehmen an einen Tisch setzen, um über den Erstattungspreis zu verhandeln, den die Krankenkassen bezahlen müssen. Das ist schon in mehr als 700 Verfahren mehr oder weniger gut gegangen. Dass das System im Großen und Ganzen funktioniert, zeigt sich daran, dass in keinem Land Europas neue Arzneimittel schneller in den Apotheken erhältlich sind als in Deutschland (s. Pharma Fakten). Auch ist die allgemeine Verfügbarkeit von Arzneimittelinnovationen besser als in vielen anderen Ländern.
AMNOG: Die Balance zwischen Innovation und Bezahlbarkeit ist gefährdet

Doch mit dem im Herbst 2022 verabschiedeten GKV-FinStG (Pharma Fakten berichtete) könnte ein wesentliches Ziel des AMNOG unter die Räder kommen. Denn eigentlich soll es „eine neue Balance zwischen Innovation und Bezahlbarkeit von Medikamenten“ schaffen (O-Ton Bundesgesundheitsministerium). Die ist allerdings in Gefahr, wenn beispielsweise Kombinationstherapien nach abgeschlossenem AMNOG-Verfahren und festgelegtem Preis mit einem zusätzlichen Pauschalrabatt von 20 Prozent auf den Abgabepreis des Unternehmens belegt werden (Pharma Fakten berichtete). Dies soll – Änderung in der letzten Minute – nur dann nicht gelten, wenn die Arzneimittelkombi mindestens einen beträchtlichen Zusatznutzen erwarten lässt. Im Durchschnitt und über alle Indikationen hinweg hat der vom Pharmaunternehmen bei Einführung aufgerufene Preis an dieser Stelle im Verfahren aber bereits rund 26 Prozent verloren, wie in den „AMNOG-Daten 2022“ nachzulesen ist, die der Pharmaverband BPI herausgibt – das ist der durchschnittlich im AMNOG-Verfahren verhandelte Rabatt zugunsten der Krankenkassen. Durch die Kombiregelung kommen noch einmal 20 Prozent drauf.
Selbst das ist nicht der Preis, mit dem das Unternehmen rechnen kann. Mit dem GKV-FinStG wurde auch der pauschale Herstellerrabatt erhöht – dabei können noch einmal bis zu 12 Prozent fällig werden.
Hinzu kommt, dass das GKV-FinStG den so genannten Schrittinnovationen ihren Innovationscharakter abspricht. Arzneimittel, bei denen kein Zusatznutzen anerkannt wurde, sollen weniger kosten, als die Vergleichstherapie. Ein geringer bzw. nicht-quantifizierbarer Zusatznutzen erlaubt keine Preiserhöhung. Dabei gilt: „Kein Zusatznutzen belegt“ bedeutet nicht „kein Nutzen“. Und oft sind es methodische Streitigkeiten, die zu diesen Ergebnissen führen, weshalb man noch ergänzen kann: Oft bedeutet „kein Zusatznutzen belegt“ auch nicht, dass es „keinen Zusatznutzen“ gibt. Er wurde nur nicht festgestellt.
Ein Anreiz zur schnellen Einführung von Arzneimittelinnovationen sieht anders aus.
GKV-FinStG: „Ein Schnellschuss“

Der Zusatznutzen eines Arzneimittels ist nicht länger Leitidee der Erstattung, beklagt der Verband der forschenden Pharma-Unternehmen, vfa. AMNOG ade? Sein Präsident Han Steutel hält das GKV-FinStG für einen undurchdachten Schnellschuss: „Im Arzneimittelbereich werden die Verschlechterungen bei den Erstattungsbedingungen dazu führen, dass sich die Zahl der neuen Medikamente, die in Deutschland zur Verfügung stehen, künftig spürbar reduzieren wird.“ Er erwartet besonders negative Auswirkungen in der Onkologie. Ausgerechnet Krebsmedikamente: Eine Indikation, die Todesursache Nummer 2 ist, bei der in den kommenden Jahren besonders viele Innovationen erwartet werden und wo gerade Schrittinnovationen und Kombinationstherapien dafür sorgen, dass immer mehr Menschen ihre Erkrankung überleben und wieder zurück ins Leben finden. Wie das Beispiel des Multiplen Myeloms zeigt, über das Pharma Fakten kürzlich berichtete: Dort haben sich die schrittweisen Fortschritte in den vergangenen 20 Jahren zu einer stillen Revolution summiert.
Deutsche Arzneimittelpreise: Referenz für viele andere Länder
Um zu verstehen, was ein aus Sicht des Unternehmens zu niedriger Erstattungspreis einer Arzneimittelinnovation mit schneller Verfügbarkeit zu tun hat, muss man wissen: Deutschland veröffentlicht den verhandelten Erstattungsbetrag – und steht damit laut vfa europa- wie weltweit weitgehend allein da. Diese Transparenz hat Folgen: Da viele (nicht nur europäische) Länder Deutschland als Referenz für ihre Preisfindung nutzen, entwickelt ein niedriger deutscher Preis internationale Tragweite. Wenn ein wohlhabendes Land wie Deutschland nicht bereit ist, Innovationen vernünftig zu finanzieren, welches Preissignal sendet das in Länder, in deren Gesundheitssystemen deutlich weniger Geld zur Verfügung steht? Es entsteht eine Preisspirale, die sich nach unten dreht und die global aufgestellte Unternehmen nicht ignorieren können, wenn sie langfristig ihre Innovationskraft erhalten wollen. Zusätzlich entsteht ein Anreiz, ein neues Präparat eben nicht zuerst in Deutschland einzuführen. Der vfa fordert deshalb, dass, wie international üblich, die Erstattungspreise vertraulich bleiben sollten.
Immerhin: In letzter Minute hat es ein Passus in das Gesetz geschafft, wonach die Eingriffe in das AMNOG-System in ihrer Wirkung auf Versorgung und Wirtschaftsstandort evaluiert werden sollen. Bis Ende 2023 soll der Bericht vorliegen. Doch angesichts der strukturell bedingten Finanzprobleme, die spätestens 2024 wieder voll durchschlagen, wenn die Wirkung des GKV-FinStG verpufft ist, muss man schon unerschütterlicher Optimist sein, um an substantielle Verbesserungen zu glauben.
GKV-FinStG: Ein Experiment mit Folgen

Fazit des vfa: „Deutschland lässt sich gerade auf ein Experiment ein, das nicht gut enden wird. Statt einer klaren Systematik von Nutzenbewertung und Preisverhandlungen zu folgen, sollen immer mehr Erstattungsregeln und Barrieren übereinander geschoben werden.“ Der Verband sieht Parallelen zum französischen System: „In Frankreich dauert es aber schon heute 497 Tage bis neue Arzneimittel nach der Zulassung zur Verfügung stehen, während es in Deutschland bislang nur 133 Tage sind.“
Mit den AMNOG-Regelungen im GKV-FinStG wird etwas umgebaut, was aus Sicht der Gesundheitspolitik gut funktioniert: Das „alte“ AMNOG hat seit Einführung für steigende Milliardeneinsparungen zugunsten der Krankenversicherungen gesorgt – allein für dieses Jahr werden über 9 Milliarden Euro erwartet. Und für die schnellste und umfassende Arzneimittelversorgung mit Innovationen von Patient:innen in Europa. Doch die Tage als „First-Launch-Country“ dürften gezählt sein.
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