Die Universitätsprofessorin Heidrun Thaiss und der Kinderarzt Dr. Thomas Fischbach erläuterten bei einer Veranstaltung in Berlin, weshalb Prävention so wichtig ist und wie sie umgesetzt werden könnte. Foto: iStock.com/Maridav.
Die Universitätsprofessorin Heidrun Thaiss und der Kinderarzt Dr. Thomas Fischbach erläuterten bei einer Veranstaltung in Berlin, weshalb Prävention so wichtig ist und wie sie umgesetzt werden könnte. Foto: iStock.com/Maridav.

Mehr und bessere Prävention: Weshalb die Zeit drängt

„Gesundheitsförderung und Prävention: Wie gelingt der Paradigmenwechsel?“ Dieser Frage gingen in Berlin Prof. Dr. Heidrun Thaiss und Dr. Thomas Fischbach nach – beide gehören zu den Gründungsmitgliedern des „Nationalen Aktionsbündnisses Impfen“, das jüngst seine Arbeit aufgenommen hat. Neben den Impfungen gibt es noch viele weitere Präventionsmaßnahmen, die nicht nur aus gesundheitlichen, sondern auch aus Kostengründen dringend umgesetzt werden müssten.
Hauptstadtkongress Medizin und Gesundheit 2023.
Mehr und bessere Prävention? Thema auf dem Hauptstadtkongress 2023. Foto: WISO/Schmidt-Dominé

Es ist eine Zahl, die beim Hauptstadtkongress (HSK) des Öfteren als Elefant im Raume stand: Die Gesundheitsausgaben in Deutschland lagen im Jahr 2021 bei 474 Milliarden Euro – sie übertrafen damit den weltweiten Jahresumsatz des Tech-Konzerns Apple. Wenn es allerdings um Prävention geht, dann sieht es anders aus: „Die Ausgaben für Prävention liegen bei 4 Prozent der Gesundheitsausgaben“, rechnete Heidrun Thaiss vor und fügte hinzu: „Das ist beschämend.“

Vor allem aber: Es muss sich ändern. „Wir brauchen einen Paradigmenwechsel“, erklärte Thaiss und machte anhand von Krankheitszahlen und Forschungsergebnissen deutlich, weshalb das so ist. So leiden die meisten Menschen, die älter als 65 Jahre sind, unter mindestens einer chronischen Erkrankung. Viele davon wären durch Prävention vermeidbar, etwa Bluthochdruck und Diabetes-Typ-2, die beide durch Übergewicht mit verursacht werden. Und auch bei jüngeren Menschen gibt es alarmierende Zahlen: So stieg bei 10-14-jährigen Mädchen die Zahl neu diagnostizierter Depressionen zuletzt um 23 Prozent im Vergleich zum Jahr davor. Bei den 15-17-jährigen Mädchen nahm die Zahl an Ess-Störungen um 54 Prozent zu, bei den Jungs in dieser Altersgruppe wurden 15 Prozent mehr Fälle von krankhaftem Übergewicht diagnostiziert. Eine deutliche Zunahme gab es zuletzt auch bei den Raucherquoten unter Jugendlichen – sie waren bis 2019 kontinuierlich gesunken, steigen seitdem aber wieder stark an.

Welchen Einfluss der Lebensstil auf Alterungsprozesse hat

Thaiss ging auch auf Forschungsergebnisse ein, die den Nutzen von Prävention deutlich machen. So ging die Wissenschaft lange davon aus, dass die Schutzkappen am Ende der Chromosomen, die so genannten Telomere, „sich bei jeder Zellteilung verkürzen und wir dadurch altern“, so Thaiss. Neuere Forschungsergebnisse zeigten jedoch: „Es geht nicht nur um die Länge der Telomere, sondern auch um ihre Struktur. Das ist wie bei einem Schnürsenkel, der am Ende durch eine Plastikkappe geschützt ist. Die Qualität dieser Kappe können wir durch unseren Lebensstil beeinflussen – durch genügend Schlaf und Bewegung, gesunde Ernährung, das Meiden von Zellgiften wie Tabak und Alkohol, Stressreduktion, Sozialkontakte.“ All diese Faktoren tragen zur Vermeidung von Krankheiten und zu einer höheren Lebenserwartung bei.

Gesunde Ernährung - Prävention.
Foto: CC0 (Stencil)

Ein gesunder Lebensstil fällt umso leichter, je früher die Prävention ansetzt: „Die ersten 1.000 Tage sind enorm wichtig“, erklärte Heidrun Thaiss. Wenn die Mutter – und erstaunlicherweise auch der Vater – während der Schwangerschaft zu stark zunehmen, „dann erhöht diese fetale Überernährung das Risiko, dass das Kind später übergewichtig wird. Stillen dagegen senkt dieses Risiko, weshalb wir Stillen unbedingt fördern müssen.“ Prävention muss nach Thaiss´ Überzeugung so früh wie möglich beginnen. So zeigten Studien aus den USA, dass Prävention im Kindesalter dazu führt, „dass Jugendkriminalität reduziert wird, dass es weniger Teenager-Schwangerschaften gibt, weniger Drogenmissbrauch und sogar weniger häusliche Gewalt.“

Impfen ist die beste Prävention

Als wichtigstes Mittel zur Prävention nannte Thaiss „Impfungen“, insbesondere im Kindes- und Jugendalter. Dr. Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte, stellte gemeinsam mit Thaiss das neue „Nationale Aktionsbündnis Impfen“ vor. Ziel des Bündnisses ist es, die Impfquoten deutlich nach oben zu treiben – insbesondere durch „fundierte und verständlich aufbereitete Informationen für die Öffentlichkeit“, so Fischbach, aber auch durch verbesserte Impfangebote.

Als Beispiel für die miserablen Impfquoten in Deutschland nannte Fischbach die HPV-Impfung, also die Impfung gegen Humane Papillomviren: „Nur 50 Prozent der Mädchen sind gegen HPV geimpft“, so Fischbach, „und bei den Jungs, ach reden wir nicht drüber, da ist die Zahl gerade mal zweistellig.“ Fischbach weiter: „Für mich ist es unfassbar, dass wir da nicht besser sind – diese Impfung kann Tumore verhindern.“ In Skandinavien seien die Quoten weitaus höher, aber dort gebe es auch eine andere gesellschaftliche Haltung: „Dort sagen die Menschen, ich lass mich impfen, um andere zu schützen – nicht nur mich selbst.“

12-Punkte-Programm für Politisches Handeln

Schulische Impfprogramme sollten (wieder)belebt werden. Foto: © iStock.com/Rallef
Schulische Impfprogramme sollten (wieder)belebt werden. Foto: © iStock.com/Rallef

Thaiss und Fischbach stellten ein „12-Punkte-Programm für Politisches Handeln“ vor, dessen Umsetzung zwar höhere Ausgaben für Prävention erfordert, das aber die Gesundheitsausgaben insgesamt deutlich senken könnte – weil viele Erkrankungen verhindert würden und deshalb nicht mehr behandelt werden müssten. Zu den zentralen Forderungen gehört ein nationaler Präventionsplan, der sich auf frühe Prävention konzentriert, die bereits während der Schwangerschaft beginnt und sich im Kinder- und Jugendalter fortsetzt. So müsste es entsprechende Angebote an Kitas und Schulen geben und auch schulische Impfprogramme sollten (wieder)belebt oder neu aufgesetzt werden. „Ich wünsche mir ein Schulfach Lebens- und Gesundheitskompetenz“, so Thaiss. Auf politischer Ebene müsse es ein Präventionsgesetz geben, das die Ausgaben regelt und einen „niedrigschwelligen Zugang“ zu Gesundheitsangeboten sicherstellt. Zudem brauche es ein „Bundesinstitut für öffentliche Gesundheit“, dessen Einführung im Koalitionsvertrag angekündigt ist – es sollte beim Kanzleramt verortet sein und eng mit „Grundlagen- und angewandten Wissenschaften“ zusammenarbeiten.

Weiterführende Links:

https://specials.tagesspiegel.de/wir-muessen-das-momentum-nutzen-157873

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